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Änderungsvorschlag

Grundsatzprogrammentwurf
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
1
2
Antragstext
1 „… zu achten und zu schützen …“
2 Veränderung schafft Halt.
3 Präambel
4 Gemeinsam in Vielfalt
5 Unterschiedliche Wege in die Zukunft sind nicht nur möglich, sie sind bereits im Heute
6 angelegt. So wie der Mensch die Macht hat, seine Welt zu zerstören, hat er auch die Macht,
7 sie zu einem besseren Ort für alle zu machen. Wir haben es selbst in der Hand.
8 Politik ist, sich zusammenzutun und für eine bessere Zukunft einzustehen. Als Partei eint
9 uns das Wertefundament dieses Grundsatzprogramms, eine gemeinsame Grundhaltung zu der Welt,
10 wie sie ist und wie sie sein könnte. Ein Leben in Würde und Freiheit zu ermöglichen, heute
11 wie übermorgen, überall auf diesem Planeten, den wir gemeinsam bewohnen, ist unsere Vision.
12 Veränderung schafft Halt.
13 Wir sind aus verschiedenen Wurzeln zusammengewachsen. Sie liegen in der Öko- und Anti-Atom14 Bewegung, der Frauen- und Bürgerrechtsbewegung, der Lesben-, Schwulen-, Eine-Welt- und
15 Friedensbewegung sowie der Freiheitsbewegung der friedlichen Revolution. Wir sind
16 eingebettet in die Europäische Grüne Parteienfamilie und entwickeln uns seit vier
17 Jahrzehnten stetig weiter – neue Menschen, neue Perspektiven und neue Bewegungen wie die
18 Klimabewegung oder die von Menschen mit Rassismuserfahrung kommen stetig hinzu und geben
19 unseren Werten und Zielen Kraft. Unsere Mitglieder und unsere Wähler*innen sind vielfältig,
20 unsere basisdemokratische Partei öffnet Zugänge, lernt dazu und baut immer mehr Barrieren
21 ab. Die Vielfalt unserer Partei ist unsere Stärke.
22 So vielfältig wir als Bündnispartei sind, so offen sind unsere Arme, um mitzumachen und
23 gesellschaftliche Bündnisse zu schmieden. Wir haben uns zusammengeschlossen, weil wir darauf
24 vertrauen, dass unsere Politik den Unterschied macht.
Präambel
GSP.P-01NEU: Präambel
Antragsteller*in: Bundesdelegiertenkonferenz
3
Antragstext
1 Grundwerte: Die Werte, die uns einen
2 (1) Im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch in seiner Würde und Freiheit. Jeder
3 Mensch ist einzigartig und frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Die universellen
4 und unteilbaren Menschenrechte sind Anspruch und Maßstab unserer Politik.
5 (2) Die Werte, die unsere Politik tragen, sind Ökologie, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung,
6 Demokratie und Frieden. Dieses Fundament bildet für uns die Grundlage für eine solidarische
7 Gesellschaft, in der sich die Freiheit der und des Einzelnen auch in der Achtung der Anderen
8 als Gleiche sowie in ihrer Würde und Freiheit entfaltet.
9 (3) Diese Werte, die auf dem Prinzip der Menschenwürde beruhen, ergänzen sich nicht nur, sie
10 stehen mitunter auch im Widerstreit. Werteorientierte Politik braucht Beteiligung, also
11 Gespräch und Streit, Gestaltung und Erneuerung. Nur ein geschlossenes Weltbild kennt keine
12 Widersprüche. Wissenschaftliche Erkenntnisse geben uns Orientierung und sind Richtschnur
13 guter Politik. Eine demokratische Gesellschaft realisiert sich weder in Werte- oder
14 Regellosigkeit noch in starren Dogmen, sondern indem das Verhältnis von Werten und
15 Perspektiven zueinander immer wieder konkret ausverhandelt wird. Das ist grundlegende
16 Voraussetzung für die Legitimität von Politik.
17 (4) Politik gestaltet die Wirklichkeit im Heute für das Morgen und im Bewusstsein für das
18 Gestern. Ohne Woher kein Wohin. Wir blicken nach vorne im Wissen sowohl um die geglückten
19 Erfahrungen als auch um die Schuld und das Grauen in unserer Geschichte. Als Europäer*innen
20 handeln wir im Bewusstsein einer Verantwortung für globale Gerechtigkeit auf Grundlage der
21 Bürger*innen- und Menschenrechte, wie sie sich in der Allgemeinen Erklärung der
22 Menschenrechte sowie im Grundgesetz und der EU-Grundrechtecharta manifestieren. Die Lehren
23 aus den Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus sind uns Verpflichtung.
24 (5) Unsere Politik richtet sich an alle Menschen. Wir verstehen uns als Bündnispartei, die
25 auf der Grundlage gemeinsamer Überzeugungen offen ist für unterschiedliche Erfahrungen,
26 Vorstellungen und Ansätze. Sie orientiert sich nicht an der Summe einzelner Interessen oder
27 einzelner Gruppen, sondern verbindet verschiedene Interessen zu einer gemeinsamen Vision für
28 eine bessere Zukunft. Das kann anstrengend sein, denn es bedeutet auch Macht- und
29 Verteilungsfragen zu stellen, gewachsene Strukturen zu verändern, Widerstände zu überwinden
30 und um Alternativen zu ringen, aber nur so entsteht aus den vielen verschiedenen Erfahrungen
31 und Ideen Neues.
32 (6) Jede Zeit hat ihre Aufgabe. Die Aufgabe unserer Zeit ist, eine krisenfeste Gesellschaft
33 demokratisch und nachhaltig zu gestalten. Dazu sind Wohlstand im Sinne von Klimaneutralität,
Werte, die uns einen
GSP.G-01NEU: Grundwerte: Die Werte, die uns einen
Antragsteller*in: Bundesdelegiertenkonferenz
4
34 Vorsorge und Gerechtigkeit sowie globaler Verantwortung neu zu definieren und die Politik
35 ist darauf auszurichten. Um Krisen zu meistern, braucht es Zusammenhalt – in einer
36 Gesellschaft, die allen Bürger*innen die gleichen Rechte und Möglichkeiten gewährt, die
37 Wohlstand gerecht verteilt, die die Unterschiedlichkeit von Menschen und Regionen als Stärke
38 und Wert begreift, die die Rechte und Teilhabe von Minderheiten schützt und fördert sowie
39 Spannungen durch Respekt ausgleicht. Wir streben nach einem solidarischen, gemeinsamen Wir
40 in einer vielfältigen Gesellschaft.
41 Ökologie
42 (7) Die Umwelt zu schützen und zu erhalten, ist Voraussetzung für ein Leben in Würde und
43 Freiheit. Sauberes Wasser und saubere Luft, Artenvielfalt und fruchtbare Böden sind
44 notwendige Bedingungen für unsere Entfaltungsfreiheit und Emanzipation. Eine Politik, welche
45 die natürlichen Lebensgrundlagen schützt, erhält die Möglichkeit zur Selbstbestimmung für
46 uns und künftige Generationen. Das 21. Jahrhundert ist das Zeitalter des Anthropozän. Darin
47 ist der Mensch zum entscheidenden Einflussfaktor dafür geworden, wie sich unsere Erde
48 verändert. Die Natur braucht uns nicht. Wir Menschen brauchen sie als Teil von ihr.
49 (8) Das Wissen um die planetaren Grenzen ist Leitlinie unserer Politik. Die Menschheit
50 überschreitet derzeit durch ihr Handeln die ökologischen Belastungsgrenzen in Bereichen wie
51 Artenvielfalt, Klimaerhitzung oder Meeresversauerung und gefährdet so die Stabilität der
52 Ökosysteme und die Lebensgrundlagen der Menschen. Es ist unsere Aufgabe, uns durch sozialen,
53 wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt zum Wohle der Menschen so nachhaltig
54 weiterzuentwickeln, dass wir unsere Lebensgrundlagen bewahren.
55 (9) Wir haben nur diese eine Erde, in ihrer Schönheit und natürlichen Vielfalt. Menschen
56 sind nicht die einzigen Lebewesen, die fühlen und empfinden. Daher ist es Pflicht für uns
57 Menschen, das Wohl von Tieren und die gesamte lebendige Natur um ihrer selbst willen zu
58 schützen.
59 (10) Eine intakte Umwelt ist Voraussetzung für Gesundheit. Der Erhalt unserer natürlichen
60 Lebensgrundlagen und die Maßnahmen zur Eindämmung der Klimakrise verhindern massive
61 Gesundheitsschäden und schützen im Sinne der Vorsorge die Gesundheit zukünftiger
62 Generationen.
63 (11) Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt. Ziel einer nachhaltigen Entwicklung
64 ist auch die ökologische Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Es ist unsere
65 Verpflichtung, nachfolgenden Generationen faire Handlungsspielräume und
66 Entscheidungsfreiheiten zu ermöglichen.
67 (12) Die Klimakrise und Zerstörung unserer Lebensgrundlagen verschärft bestehende
68 Ungleichheiten und trifft damit insbesondere Frauen. Ökologische Maßnahmen müssen von Frauen
69 und marginalisierten Gruppen wie zum Beispiel der indigenen Bevölkerung mitgestaltet werden.
70 Nachhaltigkeit braucht Geschlechtergerechtigkeit und inklusive Beteiligung.
71 (13) Unter der Zerstörung der Natur leiden diejenigen früher und am stärksten, die dazu am
72 wenigsten beitragen und ihr am wenigsten entgehen können. Wo reiche Menschen sich noch
73 teilweise anpassen können, spüren ärmere die Folgen mit brutaler Härte. Umwelt- und
74 Klimapolitik sind eine Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit. Jedoch können ökologische
5
75 Maßnahmen in Widerspruch zu sozialen Interessen geraten. Daher muss ökologische Politik
76 soziale Interessen immer miteinbeziehen.
77 (14) Wir denken Ökologie global. Ein Leben in Würde und Freiheit bedeutet ein Recht aller
78 Menschen auf Selbstbestimmung und Teilhabe. Globale Umweltgerechtigkeit nimmt die
79 historische Verantwortung der Industriestaaten für die Zerstörung der Umwelt in den Blick.
80 Deshalb sind wir in der Pflicht, die ökologischen und sozialen Kosten unseres Wirtschaftens
81 zu reduzieren, statt sie in andere Weltregionen zu verlagern, sowie diejenigen zu
82 unterstützen, die schon heute stark von Umweltzerstörungen betroffen sind und das in Zukunft
83 noch stärker sein werden.
84 (15) Eine nachhaltige Wirtschaftsweise schützt nicht nur Lebensgrundlagen, sondern erhöht
85 auch Wohlstand und Lebensqualität. Das erfordert eine grundlegende Dekarbonisierung unserer
86 Wirtschaft und unserer Lebensweise, für die in den kommenden Jahrzehnten erhebliche
87 Investitionen notwendig sind.
88 (16) Der Weg in eine ökologische Zukunft sichert Demokratie und Selbstbestimmung für heute
89 und für künftige Generationen. Sonst verlieren wir, was wir mit dem Klima schützen: Freiheit
90 und Würde. Demokratische Verfahren bringen die Kreativität und den gesellschaftlichen
91 Zusammenhalt hervor, die es zur Bewältigung der ökologischen Krisen braucht.
92 Gerechtigkeit
93 (17) Die Würde und Freiheit des Menschen werden in einer gerechten und solidarischen
94 Gesellschaft verwirklicht. Solidarität schafft gesellschaftlichen Zusammenhalt.
95 Gerechtigkeit heißt für uns gleiche und größtmögliche Freiheit für alle. Sie ist die
96 Grundlage für ein gutes Leben.
97 (18) Jede*r Mensch muss vor Armut geschützt sein, denn Armut kann kein akzeptierter Teil
98 einer gerechten Gesellschaft sein. Doch soziale Gerechtigkeit bedeutet mehr als ein Leben
99 ohne Armut: Jeder hat das Recht auf materielle Sicherheit und gesellschaftliche, politische
100 und kulturelle Teilhabe sowie ein Leben ohne Existenzangst. Dafür braucht es einen starken
101 Sozialstaat, der die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes, glückliches Leben schafft,
102 Teilhabe aktiv ermöglicht und dafür sorgt, dass niemand durchs Raster fällt.
103 (19) Eine gerechte Gesellschaft ermöglicht, gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben
104 teilzunehmen. Das verlangt starke öffentliche Räume und Institutionen – gute Kitas,
105 Kindergärten und Schulen, Hochschulen, Schwimmbäder und Sportplätze, Bibliotheken und
106 Theater, einen gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehr, Breitbandanschlüsse für alle,
107 leistbaren Wohnraum, gute gesundheitliche Versorgung und gleichwertige Lebensverhältnisse in
108 der Stadt und auf dem Land. In Zeiten der Individualisierung, in der sich viele Menschen
109 einsam fühlen, sind solche Orte von besonderer Bedeutung.
110 (20) Die Finanzierung einer starken Daseinsvorsorge ist öffentliche Aufgabe.
111 (21) Gute, inklusive und diskriminierungsfreie Bildung ist Voraussetzung für Gerechtigkeit.
112 Wir brauchen ein ganzheitliches und am Menschen orientiertes Bildungssystem, das nicht außer
113 Acht lässt, dass Menschen nicht über die gleichen Voraussetzungen verfügen. Das Vertrauen,
114 dass wir die Zukunft für uns und die Generationen nach uns ermöglichen und gestalten können,
6
115 ist ein notwendiger Antrieb für gesellschaftlichen Fortschritt.
116 (22) Eine Gesellschaft ist dann sozial, wenn Wohlstand, Ressourcen und Macht gerecht
117 verteilt sind. Unregulierter Kapitalismus produziert Ungleichheit und Machtkonzentration. Zu
118 große Ungleichheit bedroht den Zusammenhalt der Gesellschaft und damit einen Pfeiler der
119 Demokratie. Aufgabe von Politik ist es, solche Ungleichheit zu vermeiden und durch
120 Regulierung, Investitionen und Steuern Ungleichheit zu reduzieren und einen Ausgleich zu
121 schaffen. Große Vermögen und hohe Einkommen bringen soziale Verpflichtungen mit sich.
122 (23) Alle Menschen sollen unabhängig vom Geschlecht an der Gesellschaft teilhaben können.
123 Gerechtigkeit bedeutet, dass bezahlte und unbezahlte Arbeit, Einkommen, Zugang zu Bildung,
124 Eigentum und Zeit zwischen den Geschlechtern gerecht verteilt sind.
125
126 (24) Ohne die staatliche Garantie für diskriminierungsfreie und gleiche Rechte, Zugänge und
127 Teilhabe für alle ist Gerechtigkeit nicht herstellbar. Das heißt auch, dass die Bekämpfung
128 von Rassismus und allen Formen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, auch in ihrer
129 Verschränkung, grundlegende Aufgabe von Staat und Gesellschaft ist. Eine Gesellschaft ist
130 dann gerecht, wenn auch Menschen mit jedweder Form der Behinderung in allen Bereichen des
131 gesellschaftlichen Lebens teilhaben können.
132 (25) Soziales und ökologisches Wirtschaften schafft Innovation und Fortschritt und trägt so
133 zu einer gerechten Gesellschaft bei. Dafür braucht es gemeinsame Regeln, die fairen
134 Wettbewerb ermöglichen, die Konzentration von Macht verhindern und Verbraucher*innen-Rechte
135 schützen. Eine am Gemeinwohl orientierte, sozial-ökologische Marktwirtschaft setzt auf
136 Sozialpartnerschaft und schafft gute, nachhaltige Arbeit. Sie trägt dazu bei, dass Menschen
137 sich verwirklichen können, Informationen effektiv genutzt werden, Wohlstand zum Wohle aller
138 und nicht auf Kosten zukünftiger Generationen entsteht und die Versorgung mit grundlegenden
139 Gütern gewährleistet ist.
140 (26) Um globale Gerechtigkeit zu ermöglichen und die Universalität der Menschenrechte zu
141 verteidigen, muss das Weltwirtschaftssystem ein sozial-ökologisches werden, das nach
142 demokratischen Regeln organisiert ist und auf der Grundlage von gleichberechtigter
143 Kooperation und Solidarität und nicht auf Dominanz beruht.
144 Selbstbestimmung
145 (27) Menschen begegnen sich als Gleiche – in ihren Rechten und ihrer Würde. Selbst über das
146 eigene Leben bestimmen zu können, macht die Würde und Freiheit eines Menschen aus. Politik
147 hat die Aufgabe, die Freiheit und das Recht zur Selbstbestimmung zu schützen. Sie erkennt
148 Unterschiede an und verhindert undemokratische und damit ungerechtfertigte Herrschaft.
149 Voraussetzung für Selbstbestimmung, Freiheit und eine freie Entfaltung ist eine
150 Gesellschaft, in der weder der soziale Status, das Geschlecht oder die Herkunft noch die
151 Religion oder Weltanschauung oder äußere Merkmale noch rassistische Zuschreibungen, das
152 Alter oder eine Behinderung noch die sexuelle Orientierung oder die sexuelle Identität einen
153 Einfluss darauf haben, wer dazugehört und wer nicht. Freiheit muss gesellschaftlich aktiv
154 ermöglicht werden.
155 (28) Selbstbestimmtes Leben ist auf soziale, rechtliche, demokratische und ökologische
7
156 Voraussetzungen angewiesen, für welche Politik den Rahmen setzen muss. Sonst bleibt es das
157 Privileg weniger. Freie Entfaltung und aktive Teilhabe brauchen eine gute und barrierefreie
158 Infrastruktur, finanzielle Absicherung, Sicherheit und Schutz vor Gewalt und Kriminalität.
159 Informationelle Selbstbestimmung und informationstechnische Sicherheit sind im digitalen
160 Zeitalter zu garantieren.
161 (29) Die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen ist Voraussetzung für den
162 gesellschaftlichen Zusammenhalt und für die individuelle Selbstbestimmung. Eine inklusive
163 Gesellschaft schafft Strukturen, die allen Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit und
164 Vielfalt Teilhabe und Partizipation ermöglichen.
165 (30) Selbstbestimmtes Leben setzt wirtschaftliche Freiheit voraus. Die Freiheit, den Beruf
166 zu wählen, Verträge zu schließen, als Verbraucher*innen selbstbestimmte Entscheidungen
167 treffen zu können und ein Gewerbe oder Unternehmen zu gründen, gehört dazu. Alle haben das
168 Recht, in einer Gewerkschaft für gute Arbeitsbedingungen und Löhne zu kämpfen.
169 Wirtschaftliche Freiheit gewährleistet Eigentumsfreiheit, die sozial verpflichtet und sie
170 beinhaltet einen wirkungsvollen Schutz vor Diskriminierung.
171 (31) Damit sich alle mit ihren Stärken und Schwächen selbstbestimmt entfalten können,
172 braucht es eine solidarische Gesellschaft. In einer Welt, in der die Anforderungen an jede*n
173 Einzelne*n steigen, in der alle immer schneller, anpassungsfähiger und immer besser sein
174 sollen, darf es auch Langsamkeit und Schwäche geben und sollte jede*r vor schädlichem Druck
175 geschützt werden. Jeder Mensch verdient Wertschätzung und Anerkennung für seine
176 individuellen Lebensentscheidungen, solange sie nicht zulasten der Rechte Dritter gehen und
177 nicht gegen die verfassungsgemäße Ordnung verstoßen.
178 (32) Freiheit bedeutet Verantwortung für sich selbst und für andere. Sie ist ein
179 individuelles wie auch ein gesellschaftliches Gut. Freiheit fordert zum wechselseitigen
180 Respekt heraus und verlangt uns allen etwas ab. Freiheit und Selbstbestimmung finden ihre
181 Grenze dort, wo durch sie anderen Menschen und zukünftigen Generationen diese genommen
182 werden. Nur demokratische und rechtsstaatliche Verfahren können die Einschränkung von
183 Freiheit und Selbstbestimmung legitimieren. Neue Technologien müssen Freiheit schützen und
184 dürfen sie nicht gefährden.
185
186 (33) Zur Selbstbestimmung gehört die Anerkennung und der Schutz kultureller Vielfalt
187 einschließlich religiöser Vielfalt sowie der Freiheit, keine Religion zu haben.
188 (34) Eine gleichberechtigte Gesellschaft ist eine, in der alle Menschen selbstbestimmt über
189 ihr Leben und ihren Körper entscheiden können. Dieses Recht muss auch für Frauen und Mädchen
190 gelten und setzt die Emanzipation von Verhältnissen der Unterdrückung und eine gemeinsame
191 eindeutige Haltung gegen geschlechtsspezifische Gewalt voraus. Wir stehen an der Seite von
192 Mädchen und Frauen sowie von trans* und inter* Menschen, die global für ihr
193 Selbstbestimmungsrecht streiten.
194 (35) Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Sie haben eigene Rechte auf Förderung ihrer
195 Entwicklung, auf Schutz, Teilhabe, Gehörtwerden und Bildung. Selbstbestimmung ist nur
196 möglich, wenn allen Kindern und Jugendlichen gleiche Chancen gegeben werden.
8
197 Demokratie
198 (36) Demokratie heißt gleiche politische Freiheit für alle. Die Demokratie lebt von
199 Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann. Deshalb braucht sie Demokrat*innen.
200 Demokratie steht nie still. Sie entwickelt sich immer weiter. Demokratie ist die Staatsform,
201 die zur Selbstkorrektur in der Lage ist.
202 (37) Demokratie ist mehr als die Herrschaft der Mehrheit, denn sie garantiert den Schutz von
203 Menschen-, Freiheits- und Minderheitenrechten auf Grundlage eines liberalen Rechtsstaates.
204 Auch die wehrhafte Demokratie braucht Bürger*innen, die sie aktiv verteidigen und ihr immer
205 wieder neue Kraft geben. Das ist der beste Schutz gegen die Zerstörung von innen.
206 (38) In einer Demokratie verhandeln Menschen gemeinschaftlich ihre Zukunft und entscheiden
207 über die ihr Leben betreffenden Belange gemeinsam. Demokratie ist anstrengend. Sie braucht
208 respektvollen Streit genauso wie den Kompromiss. Demokratie braucht Freiheit, sie muss
209 Bürger*innen- und Menschenrechte garantieren und ist sogleich an soziale Voraussetzungen und
210 Solidarität gebunden.
211 (39) Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit sind das Fundament einer demokratischen
212 Gesellschaft. Der Staat als Inhaber des Gewaltmonopols muss gewährleisten, dass die Menschen
213 Zugang zu einer unabhängigen Justiz haben, um ihre Rechte gegen andere, aber auch gegen den
214 Staat selbst ohne Gewalt durchsetzen zu können.
215
216 (40) Der Schutz, die Förderung und die Gewährleistung der Menschenrechte sind zwingende
217 Voraussetzung für Demokratie.
218 (41) Wir stehen für eine inklusive, vielfältige Demokratie. In einer diversen Gesellschaft,
219 in der vielfältige Perspektiven zusammenkommen und sich Gehör verschaffen, sehen wir die
220 Aufgabe, Unterschiede anzuerkennen, Nachteile auszugleichen, strukturelle Benachteiligungen
221 zu überwinden und somit Gleichberechtigung zu schaffen. Das ist die Grundlage für die
222 wechselseitige Anerkennung als Gleiche in einer vielfältigen Gesellschaft. Demokratie
223 ermöglicht ein gesellschaftliches Wir, das nicht in Partikularinteressen auseinanderfällt.
224 Sie wird reicher durch den Respekt vor verschiedenen Erfahrungen.
225 (42) Allen Geschlechtern kommt in der Demokratie gleiche Gestaltungs- und Entscheidungsmacht
226 zu. Die Partizipation aller Geschlechter, auch, inter-, trans- und non-binären Personen,
227 setzt Geschlechtergerechtigkeit und durchlässige Strukturen voraus. Um Frauen an allen
228 demokratischen Prozessen gleichberechtigt zu beteiligen, braucht es Parität.
229 (43) Demokratie ist eine öffentliche Angelegenheit. Der demokratische Meinungsstreit braucht
230 eine starke und lebendige Zivilgesellschaft, Engagement und Bürger*innen-Beteiligung, starke
231 und freie Medien, Kultur, Künste und Wissenschaft, gute Bildungseinrichtungen und starke
232 öffentliche Begegnungsräume sowie betriebliche Mitbestimmung auf Augenhöhe. Für die offene
233 Auseinandersetzung nach klaren Regeln braucht Demokratie immer wieder Innovationen und
234 Parteien, in denen sich Menschen zusammenfinden, um Meinungen zu bündeln und sich mit
235 Programmen und Haltungen der öffentlichen Debatte und der Entscheidung zu stellen.
236 (44) Demokratie ist darauf angewiesen, dass sich Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft
237 einmischen und repräsentiert sehen. Demokratie braucht Zugänge und auch direkte Beteiligung,
9
238 um die unterschiedlichen Perspektiven und Positionen in den demokratischen Prozess
239 einbringen zu können.
240 (45) Demokratie beruht auf nachvollziehbaren Entscheidungswegen und auf Transparenz über
241 Einflussnahme – etwa durch Unternehmen, Lobbyismus oder andere Staaten. Ein zu starker
242 Einfluss bestimmter Gruppen und ökonomischer Interessen untergräbt das Primat der Politik
243 und muss eingegrenzt werden. Politik entscheidet im Sinne des Gemeinwohls über
244 wirtschaftliche Rahmenbedingungen, sie findet ausgleichend Wege, alle Stimmen zu hören und
245 sichert so dieEigenständigkeit und Glaubwürdigkeit politischen Handelns.
246 (46) Der Föderalismus in Deutschland ist eine Lehre aus dem düstersten Kapitel unserer
247 Geschichte und verhindert zentralstaatliche Übergriffe auf die Bürger*innen-Rechte. Er
248 verpflichtet zur Kooperation. Das Zusammenspiel von Bund, Ländern und Kommunen sichert
249 demokratische und soziale Stabilität. Es stärkt vielfältige Regionen und sorgt für eine
250 nahbare, ansprechbare Politik. Im Streben nach gleichwertigen Lebensverhältnissen tragen
251 Bund und Länder gemeinsame Verantwortung.
252 (47) Für unser Land ist die europäische Integration konstitutiv – sie zu einer Föderalen
253 Europäischen Republik weiterzuentwickeln ist Voraussetzung, um globale Fragen ökologisch,
254 sozial und demokratisch mitgestalten zu können.
255
256 (48) Demokratie ist weltweit die Bedingung dafür, dass Menschen selbstbestimmt leben
257 können. Internationale Solidarität von Demokrat*innen gegen autoritäre Herrschaft und jede
258 Form totaler Unterdrückung stärkt Demokratie global.
259 Frieden
260 (49) Gelebte Freiheit und garantierte Würde benötigen Frieden. Das Zusammenleben der
261 Menschen fußt auf der Fähigkeit, Konflikte gewaltfrei und friedlich zu lösen und die
262 Menschenrechte aller zu wahren. Wo Gewalt friedliche Politik verneint, können Menschenrechte
263 und Gewaltfreiheit in Konflikt geraten. Wir setzen auf die Mittel der Politik, die dem Geist
264 der Kooperation in globaler Verantwortung entsprechen.
265 (50) Würde, Freiheit und Gleichheit ergeben sich aus der Universalität und Unteilbarkeit der
266 Menschenrechte. Die verbrieften Menschenrechte sind nicht verhandelbar – weder gegenüber
267 machtpolitischen oder wirtschaftlichen Interessen noch gegenüber einem kulturellen
268 Relativismus. Die Würde jedes Menschen ist unantastbar. Dies zu gewährleisten ist
269 Verpflichtung nationaler und internationaler Politik. Wir tragen als internationale
270 Gemeinschaft Verantwortung, gegen schwerste Menschenrechtsverletzungen und Völkermord im
271 Rahmen der Vereinten Nationen vorzugehen.
272 (51) Gewaltfreiheit ist mehr als die Nichtanwendung physischer Gewalt, Frieden mehr als die
273 Abwesenheit von Krieg. Der Einsatz für eine Kultur der Gewaltfreiheit umfasst als wichtige
274 Querschnittaufgabe weit mehr als den Bereich der Außenpolitik. Kooperation, Dialog,
275 demokratischer Ausgleich von Interessen, Abrüstung und die Stärke des Rechts, genauso
276 Multilateralismus, internationale Partnerschaft und europäische Einigung sind der Weg, um
277 globale Herausforderungen, vor denen die Menschheit als Ganzes steht, zu bewältigen. Ziel
278 bleibt, durch eine Politik für Gewaltfreiheit, mittel- und langfristig die politische
10
279 Institution des Krieges zu überwinden.
280 (52) Frauenrechte sind Menschenrechte. Die Verwirklichung von Frauen- und
281 Minderheitenrechten, wie zum Beispiel die Rechte von inter- und transgeschlechtlichen
282 Menschen, der Schutz vor geschlechtsspezifischer, rassistischer und anderer
283 menschenfeindlicher Gewalt, Verfolgung und Diskriminierung sowie eine aktive Unterstützung
284 und das Empowerment von Mädchen, Frauen und anderen marginalisierten Gruppen in allen
285 Bereichen sollen die internationale Politik leiten.
286 (53) Das vereinigte Europa, als einzigartiges Friedensprojekt entstanden, hat eine
287 Mitverantwortung für Frieden weltweit. Gegen autoritären Nationalismus ist das Versprechen
288 Europas auf Frieden, Freiheit, Demokratie, Solidarität, Gerechtigkeit, Stabilität,
289 ökologische Verantwortung und Menschenwürde wichtiger Anker multilateraler und
290 menschenrechtsbasierter Politik in der Welt. Es gilt auch in der EU-Außen- und
291 Nachbarschaftspolitik.
292 (54) Internationale Solidarität sowie Verantwortung für unser historisches und heutiges
293 Handeln bestimmen unsere Politik. Unser Ziel ist eine weltweite Ordnung mit internationalen
294 Institutionen. Sie soll Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit sichern, globale Ungleichheit
295 und Armut verringern, den gleichberechtigten Zugang zu globalen Gemeingütern ermöglichen,
296 internationalen Austausch und nachhaltige Konnektivität stärken, Demokratie fördern, die
297 gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Minderheitengruppen garantieren, die verbrieften
298 Menschenrechte aller Migrant*innen und das Klima schützen sowie die Einhaltung der
299 planetaren Grenzen ermöglichen, so wie es in den Zielen für nachhaltige Entwicklung der
300 Vereinten Nationen vereinbart ist.
11
Antragstext
1 Kapitel 1: Lebensgrundlagen schützen
2 Klima und Energie
3 (55) Nach dem fossilen Zeitalter beginnt das ökologische Zeitalter. War der Fortschritt der
4 Moderne bislang angetrieben von Kohle, Öl und Gas und verlagerte er seine sozialen und
5 ökologischen Kosten zu großen Teilen in andere Weltregionen und in die Zukunft, geht es beim
6 Fortschritt heute darum, die natürlichen Lebensgrundlagen zu bewahren sowie den
7 gegenwärtigen und kommenden Generationen weltweit ein Leben in Freiheit, Würde und Wohlstand
8 zu ermöglichen. Je entschiedener wir handeln, umso mehr Freiheiten und Alternativen haben
9 wir in den kommenden Jahrzehnten.
10 (56) Im ökologischen Zeitalter ist das Prinzip der Nachhaltigkeit leitend. Die natürlichen
11 Ressourcen dürfen demnach nur in dem Maße genutzt werden, wie sie sich auch wieder erneuern
12 können. Das gilt für Technologien, Wirtschaftsweisen, für den privaten Verbrauch und Konsum.
13 Konkret bedeutet das: Politische Entscheidungen müssen daran gemessen werden, ob ihre Folgen
14 mit der Einhaltung der planetaren Grenzen vereinbar sind.
15 (57) Wir leben in Zeiten der Klimakrise. Der Anstieg der Meeresspiegel bedroht das Leben an
16 den Küsten. Trockenheit und Wüstenbildung zerstören Lebensräume von Mensch und Tier.
17 Hitzesommer und Wetterextreme sorgen für extreme Schäden und nehmen lebensbedrohliche
18 Ausmaße an, insbesondere im globalen Süden. Immer mehr Menschen müssen ihr Zuhause
19 verlassen. Es ist Aufgabe der Menschheit, die Katastrophe so weit wie möglich zu verhindern.
20 (58) Zentrale Grundlage unserer Politik ist das Klimaabkommen von Paris sowie der Bericht
21 desWeltklimarates zum 1,5-Grad-Limit, der verdeutlicht, dass jedes Zehntelgrad zählt, um das
22 Überschreiten von relevanten Kipppunkten im Klimasystem zu verhindern. Es ist daher
23 notwendig, auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen. Dafür ist unmittelbares und substanzielles
24 Handeln in den nächsten Jahren entscheidend. Mehr erneuerbare Energien zu nutzen, ist nicht
25 nur günstiger und nachhaltiger, sondern führt auch schneller zu europäischer
26 Klimaneutralität – die deutlich vor Mitte des Jahrhunderts erreicht werden muss.
27 (59) Maßstab erfolgreicher Klimapolitik ist der globale Budget-Ansatz. Er zeigt auf, wie
28 viele Treibhausgasemissionen insgesamt weltweit noch ausgestoßen werden dürfen, um das
29 Pariser Klimaabkommen einzuhalten. Industriestaaten wie Deutschland als historisch größte
30 Verursacher von Treibhausgasen haben eine besondere Verantwortung und müssen deshalb eine
31 Führungsrolle bei der Dekarbonisierung einnehmen. Jede zusätzliche von ihnen ausgestoßene
32 Tonne CO2 ist ein bei Ländern des globalen Südens und bei nachfolgenden Generationen
33 aufgenommener Kredit. Daraus folgt die Notwendigkeit, jeden Tag konkret zu handeln.
Lebensgrundlagen schützen
GSP.L-01NEU: Kapitel 1: Lebensgrundlagen schützen
Antragsteller*in: Bundesdelegiertenkonferenz
12
34 (60) Der Übergang zu 100 Prozent erneuerbaren Energien und der Ausstieg aus fossilem Gas, Öl
35 und Kohle sind die Schlüsselaufgaben des Klimaschutzes. Eine schnelle und konsequente
36 Dekarbonisierung modernisiert zugleich Wirtschaft und Industrie und sichert so
37 gesellschaftlichen Wohlstand und Arbeitsplätze. Um alle Wirtschaftsprozesse zu
38 dekarbonisieren, müssen die Erneuerbaren massiv ausgebaut werden sowie effizient und
39 wirtschaftlich zwischen den Sektoren Strom, Wärme, Verkehr, Industrie und Landwirtschaft
40 über
41 Netze, Speicher und erneuerbare Energieträger gekoppelt werden.
42 (61) Der Einsatz moderner Technologien ermöglicht Klimaneutralität. Die Aufgabe von Politik
43 ist es daher, den Einfallsreichtum der Menschen zu aktivieren, um geeignete Technologien zu
44 entwickeln und clever zu nutzen. Technologische Lösungen müssen immer dem Vorsorgeprinzip
45 folgen und Maßgaben zur Rückholbarkeit unterliegen, denn großtechnische Eingriffe in das
46 Klimasystem bergen unkalkulierbare Risiken. Bei der Abwägung
47 von Nutzen und Schäden müssen also die mögliche Umkehrbarkeit sowie die Eingriffstiefe
48 berücksichtigt werden. Technologien werden grundlegende Veränderungen und schnelles Handeln
49 nicht ersetzen, sondern nur ergänzen können. Ebenso sind Negativemissionen kein Ersatz für
50 Emissionsreduktionen.
51 (62) Die Digitalisierung kann einen Beitrag für den Klimaschutz leisten. Über moderne
52 Technik und Preissignale ermöglicht sie es,
53 eine schwankende erneuerbare Produktion eng mit dem Verbrauch zu verzahnen. Das Potential
54 der Digitalisierung für Ressourceneffizienz und
55 sparsamen Energieverbrauch soll bestmöglich gefördert werden. Die Digitalisierung selbst
56 muss mit Maßnahmen flankiert werden, die den Ressourcenverbrauch begrenzen, Rebound-Effekte
57 vermeiden und Suffizienz unterstützen. Maßstab sind die planetaren Grenzen.
58 (63) Eine dezentrale Versorgung mit erneuerbaren Energien in vielfältiger Besitzstruktur ist
59 krisenfester als ein Energiesystem, das auf zentralen Großkraftwerken beruht. Gleichzeitig
60 lässt sich die lokale und regionale Versorgung durch erneuerbare Energien mittels einer
61 europaweiten Vernetzung optimieren. Die europäische Energieunion soll die Stärken der
62 vielfältigen erneuerbaren Energien miteinander verbinden. Dabei können Solarenergie und
63 Onshore-Windkraft in ganz Europa genutzt werden, Geothermie und Wasserkraft zum Beispiel in
64 Skandinavien und den Alpen, Offshore-Windkraft im Atlantik, im Mittelmeer und in Nord- und
65 Ostsee. Dies gelingt, wenn entscheidende Akteur*innen, wie Bürger*innen, Kommunen, aber auch
66 regionale Unternehmen und das Handwerk aktiv zur Energiewende beitragen –zugleich können
67 sie dadurcheinen unmittelbaren Nutzen haben.
68
69 (64) Bei Infrastrukturen wie Strom- und Gasleitungen, die natürliche Monopole
70 darstellen, hat die öffentliche Hand eine besondere Verantwortung. Entsprechend soll ihr
71 Anteil bei künftigen Investitionen erhöht werden.
72 (65) Es braucht eine vorausschauende Energieaußenpolitik auch über Europa hinaus. Sie hilft
73 weltweit bei der Dekarbonisierung, plant und organisiert den Übergang zu neuen Energie- und
74 Handelsflüssen und sichert noch notwendige Energieimporte. Zusätzlich hilft eine
75 Energieaußenpolitik auf Augenhöhe mit den Partnerländern beim Aufbau der entsprechenden
76 Strukturen für deren eigene Energiewende und anschließend für den Export. Sie stellt
13
77 außerdem sicher, dass die importierte Energie nachhaltig und unter sozial gerechten
78 Bedingungen
79 erzeugt wurde.
80 (66) Um die Klimakrise zu bewältigen, ist es weder notwendig noch vertretbar, zur Atomkraft
81 zurückzukehren. Diese Hochrisikotechnologie ist vielmehr eine weltweite existenzielle
82 Bedrohung für Natur, Mensch und Tier. Daher sind alle Anlagen stillzulegen, die einer
83 weiteren Nutzung der Atomkraft im In- und Ausland dienen oder das Material zu einem
84 möglichen Bau von Atombomben produzieren. Statt der Privilegierung der Atomkraft im Euratom85 Vertrag sollten erneuerbare Energien gefördert werden. Eine mögliche Energiegewinnung aus
86 Kernfusion kommt zu spät, um in den nächsten Dekaden einen wesentlichen Beitrag zur Lösung
87 der Klimakrise leisten zu können.
88 (67) Jetzt stellt sich die Aufgabe, einen Standort für ein Endlager für den hochradioaktiven
89 Atommüll mit höchstmöglichen Sicherheitsstandards und bei bestmöglichen geologischen
90 Bedingungen zu finden. Bei der Suche auf Basis von wissenschaftlichen Kriterien und mit
91 größtmöglicher Transparenz und Beteiligung der Bevölkerung, ist die gesamtgesellschaftliche
92 Verantwortung vor Eigeninteressen zu stellen. Ebenso müssen die Zwischenlager die höchsten
93 erreichbaren Sicherheitsstandards erfüllen.
94 Umwelt, Naturschutz und Landwirtschaft
95 (68) Der Verlust an Biodiversität ist so dramatisch wie die Klimakrise. Schlimmer noch: Die
96 beiden Krisen bedingen sich gegenseitig und können daher auch nur gemeinsam gelöst werden.
97 Die Roten Listen und die planetaren Grenzen müssen als „Barometer des Lebens“ zum Gradmesser
98 für politische Handlungsleitlinien werden, denn die biologische Vielfalt sichert das Leben
99 auf dem Planeten. Ökologischer Landbau, die Ökologisierung der konventionellen
100 Landwirtschaft, flächensparendes Planen und Bauen, der Erhalt wertvoller Lebensräume, mehr
101 Schutzgebiete und Biotope sowie mehr Wildnis und freie Natur an Land, in
102 Flüssen, Seen und Meeren sind als wirksamer Schutz für Artenvielfalt und Umwelt zu
103 betreiben und zu fördern. Insbesondere die Weltmeere sind durch Versauerung, Überhitzung und
104 Überfischung massiv bedroht. Als größte Sauerstoffproduzenten müssen sie durch wirksame
105 Meeresschutzgebiete, umweltgerechte Land- und Fischereiwirtschaft geschützt werden.
106 (69) Das Vordringen des Menschen in die letzten, noch nicht zerstörten natürlichen Gebiete
107 und die grenzenlose Aneignung von Umwelt und Tierwelt zum Verbrauch oder Verzehr gefährden
108 nicht nur die Natur, sondern auch die menschliche Gesundheit. Sogenannte zoonotische
109 Krankheiten können fatale gesellschaftliche Folgen haben. Der Schutz von Ökosystemen trägt
110 auch dazu bei, Seuchen und Pandemien zu verhindern. Bei Eingriffen in die Natur müssen
111 nicht-verantwortbare Risiken, wie die Ausrottung ganzer Populationen oder Arten durch
112 gentechnische Methoden, ausgeschlossen werden.
113 (70) Damit Wälder, Moore und Auen ihren unverzichtbaren Beitrag zur Sicherung der
114 Biodiversität, zur Grundwasserneubildung und zur Reduktion des CO2-Ausstoßes leisten können,
115 müssen Wiederbewaldung und Waldumbau - weg von Monokulturen und hin zu naturnahen,
116 klimaresilienten Mischwäldern - nach ökologischen Kriterien beschleunigt werden. Zugleich
117 ist es dringend nötig, die Trockenlegung von Mooren zu stoppen, ihre Wiedervernässung und
118 die Auenrenaturierung zu fördern. Denn Naturschutz ist Klimaschutz.
14
119 (71) Artenschutz erfordert den Schutz von Lebensräumen und mehr Wissen. Ziel ist der Auf120 und Ausbau eines vernetzten Verbundes von Schutzflächen sowie eine naturgerechte Land- und
121 Waldwirtschaft. Das Vollzugsdefizit im Natur-, Umwelt- und Klimaschutz gehört beendet. Die
122 Forschung über die verschiedenen Arten, ihre Bestandssichtung und ihr Zusammenspiel im
123 Ökosystem soll gefördert und digital unterstützt werden, denn geschätzt sind heute weniger
124 als ein Viertel aller Arten bekannt. Intensivierte Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit
125 erhöht das Bewusstsein für die Bedeutung des Artenschutzes und den respektvollen Umgang mit
126 der Natur. Zum Schutz von Arten gehört es auch, den kommerziellen Wildtierhandel und die
127 Trophäenjagd effektiv zu unterbinden.
128 (72) Ein Ende der Verschmutzung der Erde mit Luft- und Wasserschadstoffen, Plastik, Müll,
129 giftigen Chemikalien und Pestiziden ist essenziell für Umwelt-, Gesundheits- und
130 Klimaschutz. Leitlinien für die Regulierung von Umweltverschmutzungen sind das Vorsorge- und
131 das Verursacherprinzip. Abfall darf nicht in andere Länder ohne strenge und
132 kontrollierbare Umweltschutzauflagen ausgelagert werden. Schadstoffe sollen nicht Teil von
133 Produkten und Produktionsverfahren sein, da sich ihre Umweltauswirkungen nachträglich in der
134 Regel nur unvollständig und zu hohen Kosten begrenzen lassen. Vorrang hat daher der Ersatz
135 umweltschädlicher durch umweltverträgliche Produkte und Produktionsverfahren mittels
136 entsprechender Gebote, starker Anreize und gesetzlicher Regelungen.
137 (73) Um den Raubbau an der Natur zu beenden, muss der absolute Verbrauch von natürlichen
138 Ressourcen substanziell und rasch reduziert werden. Dies gilt auch für Ressourcen, die
139 importiert werden. Die Achtung der planetaren Grenzen bedeutet, dass Wohlstand und
140 Lebensqualität so weit wie möglich vom Ressourcenverbrauch entkoppelt und Ressourcen in eine
141 vollständige Kreislaufwirtschaft überführt werden.
142 (74) Eine zukunftsfähige Landwirtschaft arbeitet mit der Natur. Die wachsende Abhängigkeit
143 von Weltmärkten mit engen, schuldengetriebenen Produktionszwängen und wenigen Großkonzernen,
144 von Pestiziden und Saatgutpatenten gehört beendet. Es darf keine Patente auf Pflanzen und
145 Tiere sowie deren genetische Anlagen geben. Die Zukunft gehört einer klimafreundlichen,
146 kreislauforientierten und regional verwurzelten Landwirtschaft, die altes Erfahrungswissen
147 mit modernen agrarökologischen Anbaumethoden, digitalen Anwendungen und nachhaltigem
148 Wassermanagement kombiniert. Diese vielfältige Landwirtschaft produziert nicht für Märkte,
149 sondern für Menschen, die ein Recht auf sichere, gesunde und nachhaltige Lebensmittel haben.
150 Sie arbeitet ressourcenschonend, naturverträglich und orientiert sich am Leitbild der
151 ökologischen Landwirtschaft mit ihren Prinzipien Tiergerechtigkeit, Gentechnikfreiheit und
152 Freiheit von synthetischen Pestiziden. Eine solche Landwirtschaft steht für den Erhalt einer
153 vielfältigen Kulturlandschaft und die Vielfalt von Anbausystemen, Nutztierrassen und
154 Pflanzensorten. Die Weidetierhaltung verdient dabei eine besondere Förderung, da sie das
155 ökologisch wertvolle Grünland erhält und sinnvoll nutzt. Der notwendige Wandel hin zur
156 zukunftsfähigen Landwirtschaft gelingt nur zusammen mit den Bäuerinnen und Bauern.
157 (75) Jeder Mensch hat das Recht auf bezahlbare, gesunde und ausreichende Nahrung. Es muss
158 dafür Sorge getragen werden, dass Klima und Umwelt bei der Lebensmittelherstellung geschont
159 werden, gesunde Lebensmittel produziert und damit insbesondere Kinder vor
160 ernährungsbedingten Krankheiten geschützt werden. Zugleich müssen faire Arbeits- und
161 transparente Produktionsbedingungen in der Lieferkette herrschen.
15
162 (76) Die Sicherung und Versorgung mit Nahrungsmitteln ist ein hohes Gut. Der Landwirtschaft
163 gebührt Anerkennung, dass sie dies gewährleistet. Im Sinne der globalen
164 Ernährungssouveränität gilt es, bäuerliche Strukturen zu stärken, Landgrabbing und
165 Bodenspekulation durch Großinvestoren - in Ländern des globalen Südens wie auch bei uns - zu
166 unterbinden sowie regionale Wertschöpfungsketten und solidarische Systeme zu fördern.
167 Die Exportorientierung der Landwirtschaft zulasten anderer Regionen muss abgebaut
168 werden. Ziel ist, dass Bäuer*innen einen Ausweg aus dem System des „Wachse oder Weiche“
169 erhalten. Dazu gehört auch, dass sie für ihre vielfältigen Gemeinwohlleistungen gezielt
170 entlohnt werden.
171
172 Tierschutz
173 (77) Tiere sind fühlende Lebewesen, sie haben Rechte und dürfen nicht zu Rohstofflieferanten
174 oder Unterhaltungsobjekten degradiert werden. Wo immer ihr Wohlergehen aufgrund menschlichen
175 Handelns in Gefahr ist, muss es geschützt werden. Jede Tierhaltung ist an ihren umfassenden
176 Bedürfnissen auszurichten, denn auch Tieren steht ein gutes und gesundes Leben zu. Dafür
177 müssen die entsprechenden politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden.
178 Anerkannte Tierschutzorganisationen benötigen als Anwälte der Tierrechte mehr Kompetenzen
179 und mehr Unterstützung.
180 (78) Solange wir Menschen Tiere halten, um sie zu töten und zu essen, müssen wir ihnen
181 ein würdevolles Leben frei von Schmerzen, Angst und Stress ermöglichen - ohne
182 tierquälerische Zucht-, Haltungs-, Transport- und Schlachtmethoden. Eine zukunftsfähige
183 Landwirtschaft hat diese Ziele fest in sich verankert. Das bedeutet auch, dass künftig immer
184 weniger Tiere gehalten werden und entsprechend weniger Fleisch konsumiert und exportiert
185 wird. Das ist zugleich essenziell für den Schutz von Klima, Umwelt und Biodiversität und
186 einen fairen Handel mit den Ländern des globalen Südens. Auch durch eine neue
187 Ernährungspolitik und die gezielte Förderung pflanzlicher Alternativen sinkt der Konsum von
188 tierischen Produkten. Tierversuche sollen nach einem Ausstiegsplan konsequent reduziert und
189 durch innovative Forschungsmethoden ohne Tiere ersetzt werden.
190 Mobilität
191 (79) Jeder Mensch hat das Recht auf Mobilität. Sie ermöglicht Freiheit und Teilhabe und ist
192 Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Sie muss sich an den menschlichen Bedürfnissen
193 orientieren, vollständig barrierefrei gestaltet sein und zugleich die planetaren Grenzen
194 wahren. Eine sozial-ökologische Politik schafft die Mobilitätswende und garantiert allen
195 Menschen nachhaltige Mobilität. Sie sorgt für bessere Luft, weniger Verkehrslärm und stärkt
196 die Sicherheit. Ziel ist ein Straßenverkehr, in dem keine Menschen mehr sterben. Dazu
197 braucht es strenge Geschwindigkeitsbegrenzungen, auch auf Autobahnen.
198 (80) Die öffentliche Förderung der einzelnen Verkehrsmittel ist in Zukunft am ökologischen
199 Fußabdruck auszurichten. Zugleich müssen die einzelnen Verkehrsträger für ihre jeweiligen
200 Umweltkosten aufkommen. Statt immer neue Straßen und Autobahnen braucht das Land eine
201 moderne und flächendeckende Infrastruktur für Schienen- und öffentlichen Nahverkehr. Das
202 heißt auch, dass vorhandene Straßeninfrastruktur neu und vernetzt genutzt werden kann.
203 Attraktive Angebote führen zu einer Verkehrsverlagerung. Es gilt das Prinzip: Schiene,
16
204 Radfahren und Zufußgehen stärken, Straßen- und Luftverkehr dekarbonisieren.
205 (81) Die Mobilität im ökologischen Zeitalter ist vernetzt und digital. Die Verkehrsträger
206 kombinieren ihre Angebote und Verbindungen - ermöglicht von allen Anbietern und auf
207 Grundlage transparenter Programmierungen und Informationen. Der öffentliche Nahverkehr wird
208 immer stärker öffentlich finanziert, sodass seine Nutzung für alle über niedrige
209 Pauschaltarife bis hin zu Kostenlosangeboten gewährleistet ist. Gleichzeitig muss das
210 Angebot verbessert werden. Verschiedene Mobilitätsformen greifen so nahtlos ineinander und
211 ermöglichen individuelle Mobilität, auch für Menschen mit einer Behinderung oder
212 mobilitätseingeschränkte Menschen. Home-Office, Videokonferenzen und flexibles Arbeiten
213 tragen zusätzlich zur Verkehrsvermeidung bei.
214 (82) In ländlichen Räumen ist die Mobilitätswende am anspruchsvollsten, denn viele Menschen
215 sind dort auf das Auto angewiesen. Deshalb braucht es gerade hier einen verlässlichen Takt
216 bei der
217 ÖPNV-Anbindung. Da, wo weiterhin ein Auto gebraucht wird, wird es künftig emissionsfrei und
218 digital vernetzt sein. Regionale Wirtschaft zu stärken und Menschen bezahlbaren Wohnraum in
219 der Nähe ihres Jobs zu bieten, vermeidet unnötige Wege, Gütertransporte und Pendelwege.
220
221 (83) Der Raum in den Städten wird Stück für Stück neu aufgeteilt. Sichere und
222 barrierefreie Infrastruktur für Fußgänger*innen, Radfahrende und Menschen mit
223 Behinderung sowie ein attraktiver, für alle erschwinglicher und verlässlicher Nahverkehr
224 bilden das Rückgrat einer sozial-ökologischen Mobilität. Insgesamt wird es deutlich weniger
225 Autos und weniger unnötigen Verkehr geben, die Autozentrierung von Verkehrspolitik,
226 Stadtplanung und Gesellschaft gehört der Vergangenheit an. Fahrräder und E-Bikes können
227 Autoverkehr ersetzen und unsere Städte und Dörfer lebenswerter, sicherer und mobiler machen
228 - Radwege und Ladestationen vorausgesetzt. In den Städten gehört die Zukunft der autofreien
229 Innenstadt.
230 (84) Die Verkehrswende in der Stadt und auf dem Land gelingt nur mit einer starken und
231 zuverlässigen Bahn. Das erfordert einen Aus- und Umbau des Nah- und Fernverkehrs, eine
232 getrennte Bewirtschaftung von Infrastruktur und Betrieb und eine erhebliche
233 Angebotsausweitung. Dazu gehören die Anbindung an Regionalzentren auch über
234 Verwaltungsgrenzen und nationale Grenzen hinweg sowie der Ausbau und die Elektrifizierung
235 des Schienennetzes, damit alle größeren Städte angebunden sind.
236 Stillgelegte Bahnstrecken sollen reaktiviert werden. Die europäischen Großstädte sind durch
237 schnelle transnationale Bahnverbindungen, ein komfortables Nachtzugangebot und ein
238 einheitliches europäisches Buchungssystem zu vernetzen. Das sind wesentliche Voraussetzungen
239 dafür, dass Kurzstreckenflüge sowie viele Regionalflughäfen überflüssig werden und der
240 Flugverkehr – wie klimapolitisch notwendig – merklich zurückgeht.
241
242 (85) Auch der Güterverkehr muss klimaneutral und schadstofffrei werden. Für diese
243 Aufgabe müssen alle Möglichkeiten genutzt werden, insbesondere die Verlagerung von Straße
244 und Flugzeug auf Bahn und emissionsfreie Schiffe sowie der Umstieg auf alternative
245 Antriebssysteme, der Bau und Ausbau von Oberleitungen auf Straße und Schiene und die
246 Förderung des kombinierten Güterverkehrs Straße-Schiene. Es gilt, durch dezentrale
17
247 Verteilkonzepte die Städte möglichst frei von Lkw zu bekommen.
248 Wohnen
249 (86) Jeder Mensch hat das Recht auf Wohnen. Nur wer ein gesichertes Zuhause hat, kann
250 Freiheit und Teilhabe erleben. Allen dieses Recht zu ermöglichen, ist Teil der öffentlichen
251 Daseinsvorsorge. Eine sozial-ökologische Wohnungspolitik garantiert jedem Menschen ein
252 würdiges Zuhause innerhalb der planetaren Grenzen.
253 (87) Im urbanen Raum zeigen sich die Herausforderungen für die ökologische Gesellschaft wie
254 unter einem Brennglas. Das überholte Leitbild der autogerechten Stadt kostet Lebensqualität
255 und macht krank. Mehr Wohnraum und mehr Platz für Grün und Stadtnatur, städtisches Leben,
256 Freizeit, Begegnungen und Erholung schaffen lebenswerte Städte mit kurzen Wegen, in denen
257 die Menschen gerne wohnen und arbeiten. Das Stadtklima wird verbessert, die
258 Bodenversiegelung minimiert und das Recht auf saubere Luft sichergestellt.
259 (88) Die lebenswerte Stadt der Zukunft ist eine Null-Emissionen-Stadt. Dies gelingt, wenn
260 erneuerbare Energien, saubere Mobilität und klimaneutrales Heizen verbunden werden. Dazu
261 gehören Plus-Energiehäuser, Gebäude, die Solarenergie ernten, begrünte Fassaden und Dächer
262 sowie Gebäude, die mit kreislauffähigen, ökologischen Baustoffen errichtet, modernisiert und
263 gedämmt werden und die vielfältigen erneuerbaren Wärmequellen gemeinsam nutzen. So tragen
264 die Quartiere der Zukunft aktiv zur klimafreundlichen Stadt bei.
265 (89) Der gesamte Gebäudebestand soll CO2-neutral geheizt, gekühlt, belüftet und beleuchtet
266 werden. Klimagerechte Energiestandards für Neu- und Altbauten, die den gesamten Lebenszyklus
267 der Gebäude und Baumaterialien berücksichtigen, sowie Wärme- und Kühlsysteme, die auf
268 erneuerbaren Energien basieren, geben den Weg dahin vor. Zugleich müssen die Städte durch
269 klimagerechte Planung, mehr Grün und ein ausgeklügeltes Wassermanagement widerstandsfähig
270 gegen Hitze, Dürre, Stürme und Starkregen gestaltet werden. Klimagerechtigkeit bedeutet
271 auch, dass energieeffizientes Wohnen für alle erschwinglich und barrierefrei zur Verfügung
272 steht.
273 (90) Es braucht eine Bauwende, damit das Bauwesen weg kommt vom hohen Rohstoff- und
274 Energieverbrauch und Flächen sparsam einsetzt. Nachwachsende und recycelte Baustoffe sind
275 Grundlage einer Kreislaufwirtschaft. Gebäude werden in Zukunft aus gesunden und
276 klimaneutralen Baustoffen errichtet, instandgesetzt und modernisiert. Die Umnutzung von
277 Bestandsgebäuden sowie die nachhaltige Stadtentwicklung und Gebäudeplanung stellen die
278 Menschen mit ihren Bedürfnissen in den Mittelpunkt und sichern so das Erreichen der
279 verbindlich vereinbarten Nachhaltigkeits- und Klimaziele.
280 Soziales und Ökologie
281 (91) Der Übergang in das ökologische Zeitalter muss mit einem gestärkten sozialen
282 Zusammenhalt und mehr Gemeinwohlorientierung einhergehen. Bei allen Maßnahmen des Übergangs
283 gilt es, auf den sozialen Ausgleich zu achten, zum Beispiel in Form finanzieller
284 Kompensationen. Je schneller und verlässlicher der notwendige Umbau weg von den fossilen
285 Energien angegangen wird, umso besser können abrupte Brüche vermieden werden.
286 (92) Es muss sichergestellt werden, dass alle Menschen Zugang zu essenziellen Gütern der
287 Daseinsvorsorge wie Wohnen, Wasser, Strom, gesunder Ernährung, Mobilität und
18
288 Breitbandanschluss haben. Deshalb müssen sozialstaatliche Garantien immer mit Blick auf
289 Preisänderungen angepasst werden. Und es braucht eine
290 Daseinsvorsorge, die es den Menschen ermöglicht, klimaneutral zu leben. Investitionen in
291 eine solche Daseinsvorsorge tragen zu sozialer Gerechtigkeit und Klimaschutz bei.
292 (93) Die vor uns liegende sozial-ökologische Transformation bietet viele Chancen für neue
293 Arbeitsplätze. Zugleich bedeutet der Übergang massive Veränderungen für diejenigen, die
294 bisher in von fossilen Energieträgern geprägten Industrien arbeiten. Es braucht eine
295 vorausschauende Industriepolitik, um möglichst viele Arbeitsplätze über den Wandel hin zu
296 grünen Technologien und Produkten zu erhalten und neue zu schaffen. Gleichzeitig ist es
297 Aufgabe der Gesellschaft, den betroffenen Menschen Beteiligung an den
298 Transformationsprozessen sowie eine Perspektive auf gute Beschäftigung und umfassende
299 Möglichkeiten zu beständiger Fort- und Weiterbildung zu eröffnen.
300 (94) Subventionen in umwelt- und klimaschädliche Produktionsweisen und Produkte untergraben
301 den ökologischen Umbau von Wirtschaft und Industrie. Es gilt daher, diese zu beenden und das
302 Geld stattdessen zukunftsfähig einzusetzen.
303 (95) Eine Politik, welche die ökologischen Kosten der Produktion in den Preisen abbildet,
304 ist ökonomisch effizient, sie kann aber auch zu sozialen Schieflagen führen. Deswegen gilt
305 es, Preispolitik - auch einen anzustrebenden transnationalen CO2-Preis - immer mit Maßnahmen
306 zu kombinieren, die zu mehr Verteilungsgerechtigkeit führen. Indem die Einnahmen aus
307 ökologisch lenkenden Instrumenten an die Bürger*innen zurückfließen, werden Umweltschutz,
308 Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit miteinander verbunden.
309 (96) Die Kosten des Übergangs sollen gerecht und solidarisch getragen werden. Dem Staat
310 kommt hier eine relevante Aufgabe zu. Den Weg zu einer klimagerechten Gesellschaft nicht zu
311 gehen, würde noch wesentlich mehr kosten.
312 (94) Kapitalströme müssen in nachhaltige Aktivitäten umgelenkt werden. Im Rahmen von
313 Divestment wird auf den Finanzmärkten nicht mehr in Kohle, Öl und Gas investiert, sondern in
314 erneuerbare Energie, emissionsfreie Mobilität, Gesundheit und grüne IT. Der Staat und die
315 öffentliche Hand müssen hierbei vorangehen, indem sie Transparenz gewährleisten und ihre
316 Anlagestrategien an den Pariser Klimazielen und an sozial-ethischen Kriterien orientieren.
317 (97) Die gesellschaftliche Transformation hin zu Klima- und sozialer Gerechtigkeit braucht
318 Pionier*innen. Menschen, die es anders machen wollen, die in ihrem gemeinwohlorientierten,
319 unternehmerischen oder in ihrem privaten Handeln neue Maßstäbe setzen. Sie gilt es zu
320 unterstützen, statt ihnen Steine in den Weg zu legen.
321 (98) Es ist Aufgabe der Politik, bessere Regeln zu schaffen, nicht den besseren Menschen.
322 Sinnvolle Umweltpolitik begnügt sich nicht mit Appellen, sondern setzt klare Regeln und
323 vollzieht diese. Sie fördert neue Technologien und investiert in neue Infrastrukturen.
19
Antragstext
1 Kapitel 2: In die Zukunft wirtschaften
2 Sozial-Ökologische Marktwirtschaft
3 (99) Die Wirtschaft dient den Menschen und dem Gemeinwohl, nicht andersherum. Nachhaltiger
4 Wohlstand im Sinne von Klimaneutralität, Vorsorge und Gerechtigkeit ist Kern eines
5 zukunftsfähigen Wirtschaftssystems. Ziel ist ein Wirtschafts- und Finanzsystem, das die
6 planetaren Grenzen einhält und mehr Lebensqualität für alle Menschen erreicht, weltweit und
7 für zukünftige Generationen. Dazu ist es notwendig, grundlegend anders zu wirtschaften:
8 chancen-, ressourcen- und geschlechtergerecht. Dies bedeutet einen Wandel hin zu einer
9 sozial-ökologischen Marktwirtschaft innerhalb klarer Leitplanken und mit
10 Gemeinwohlorientierung, die Konzepte wie Wachstum, Effizienz, Wettbewerb und Innovation als
11 Mittel zum Zweck betrachtet und Konzentration ökonomischer Macht bei Wenigen vermeidet.
12 (100) Viele der strukturellen Anreize zum Produzieren, Handeln und Konsumieren stellen uns
13 vor ökologische Probleme dramatischen Ausmaßes und befeuern sozial-ökonomische
14 Verteilungskrisen, die behoben werden müssen. Um die Lebensbedingungen der Menschheit global
15 zu verbessern, wird auch in der sozial-ökologischen Transformation Wachstum in bestimmten
16 Bereichen wichtig sein, andere Bereiche werden schrumpfen. Wirtschaftswachstum ist nicht per
17 se das Problem, die mit Wachstumszwängen einhergehende Übernutzung natürlicher Ressourcen
18 und Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft schon. Aus Vorsorge sind unsere Systeme deshalb auf
19 wissenschaftlicher Basis darauf auszurichten, auch beim Wirtschaften innerhalb der
20 planetaren Grenzen stabil zu bleiben- gerade im Hinblick auf wiederkehrende Wirtschafts- und
21 Finanzkrisen.
22 (101) Wohlstand definiert sich nicht allein durch materiellen Reichtum, sondern meint
23 Lebensqualität. Es geht auch um Sicherheit, Freiheit, Zeitsouveränität, gesunde
24 Lebensgrundlagen, Gleichberechtigung, kulturelle und politische Teilhabe und ein friedliches
25 Zusammenleben. Dafür sind ein neuer Wohlstandsbegriff und ein anderes Wirtschaften nötig.
26 Mit einem umfassenden Wohlstandsindikator können ökologische, soziale und qualitative
27 Merkmale erfasst werden. Wasser, Luft, Boden und Artenvielfalt sind globale Gemeingüter, die
28 abseits einer reinen Verwertungslogik allen Menschen zugutekommen müssen.
29 (102) Den Weg zur sozial-ökologischen Marktwirtschaft bereitet ein Green New Deal . Er
30 schafft den neuen Ordnungsrahmen für faires, ökologisches und nachhaltiges Wirtschaften,
31 indem er auf ein Bündnis aus Arbeit und Umwelt baut. Er investiert mutig in die Zukunft. Er
32 setzt neue Kräfte für Kreativität und Innovationen frei. Er sorgt für sozialen Ausgleich und
33 fördert eine geschlechtergerechte Gesellschaft
In die Zukunft wirtschaften
GSP.W-01NEU: Kapitel 2: In die Zukunft wirtschaften
Antragsteller*in: Bundesdelegiertenkonferenz
20
34 (103) Freies und kreatives Handeln von Menschen, fairer Wettbewerb, gesellschaftliche
35 Kooperation und die Vielfalt wirtschaftlichen Handelns können nachhaltigen Wohlstand,
36 Fortschritt und innovative Problemlösungen schaffen.
37 (104) Märkte können ein mächtiges Instrument für ökonomische Effizienz, Innovation und
38 technologischen Fortschritt sein. Ihre Dynamik und Schaffenskraft sind von großer Bedeutung,
39 um die großen Herausforderungen der ökologischen Krisen zu bewältigen. Unregulierte Märkte
40 aber sind zukunftsblind, krisenanfällig, instabil und können die Demokratie gefährden. Erst
41 klare Regeln stellen sicher, dass Märkte und Wettbewerb funktionieren und im
42 gesellschaftlichen Interesse wirken. Es ist Aufgabe des Staates, für Information,
43 Transparenz und Wahlfreiheit zu sorgen und die Durchsetzung von Verbraucher*innen-Rechten
44 sicherzustellen.
45 (105) Märkte müssen so gestaltet sein, dass Verbraucher*innen als Marktteilnehmer*innen
46 effektiv vor Missbrauch geschützt sind und selbstbestimmte Entscheidungen treffen können.
47 Dazu gehören Vorsorge und Schutz auch für schwächere Verbraucher*innen ebenso wie
48 Wahlfreiheit und Transparenz in mittlerweile globalisierten und digitalisierten Märkten. Der
49 Staat muss für diese Verbraucher*innenrechte sorgen, die Durchsetzung dieser Rechte stärken
50 und die Verbraucherpolitik gesetzlich ausgestalten. Er darf die Verantwortung für die
51 Entwicklung der Wirtschaft nicht bei den Verbraucher*innen abladen. Es ist Aufgabe des
52 Staates, einen klaren Rechtsrahmen für Wirtschaft und Wettbewerb zu setzen.
53
54 (106) Der Markt ist nicht das alleinige Organisationsprinzip für das Wirtschaften in einer
55 Gesellschaft. Ein Großteil menschlicher Wirtschaftsbeziehungen erfolgt jenseits von Märkten
56 über den Staat, in Haushalten oder gemeinschaftlich organisierten Bereichen. Wir wollen den
57 Weg ebnen für soziales und ökologisches Unternehmer*innentum, für eine Wirtschaft des
58 Teilens sowie für frei zugängliches Wissen und frei zugängliche Gemeingüter. Unbezahlt
59 geleistete Arbeit muss anerkannt werden und darf nicht zu einer Benachteiligung führen. So
60 wird die sozial-ökologische Wirtschaft im Sinne des Gemeinwohls gestärkt.
61
62 (107)Zum heutigen Zeitpunkt wissen wir nicht, welche Art des Zusammenlebens sich
63 langfristig als ökologisch und sozial tragbar erweisen wird. Um größere Handlungsspielräume
64 auch für kooperative und solidarische Formen des Wirtschaftens zu eröffnen, sollen
65 Initiativen unterstützt werden, die mit diesen Formen des Wirtschaftens experimentieren -
66 von der solidarischen Landwirtschaft mit gemeinschaftsgetragener Bäckerei über das
67 Druckerei-Kollektiv bis zum gemeinschaftlich organisierten Softwareentwicklungsbüro.
68 (108) Es gilt das Primat der Politik, auch gegenüber Wirtschaft und Kapital. Wir wollen es
69 neu begründen und durchsetzen. Dafür braucht es einen starken, effizienten und
70 handlungsfähigen Staat und klare Leitplanken aus Steuer-, Abgaben- und Ordnungsrecht sowie
71 intelligenter öffentlicher Forschungs- und Förderpolitik. Im Wettbewerb soll erfolgreich
72 sein, wer übergeordnete gesellschaftliche Ziele nicht konterkariert, sondern befördert.
73 (109) Nur wenn Preise die ökologische und soziale Wahrheit sagen, geht der Wettbewerb der
74 Märkte nicht zulasten von Mensch und Umwelt. Klimafreundliche und soziale Alternativen
75 können sich nur dann durchsetzen, wenn die Verursacher von ökologischen und sozialen Schäden
76 die Kosten für diese tragen.
21
77 (110) Zukunftsfähige Wirtschaftspolitik orientiert sich an einem neuen Wohlstandsmaß und
78 einer neuen Form der Wirtschaftsberichterstattung. Diese berücksichtigen - anders als das
79 Bruttoinlandsprodukt - neben ökonomischen auch ökologische, soziale und gesellschaftliche
80 Entwicklungen sowie Sorgearbeit, die zum größten Teil von Frauen – unbezahlt – geleistet
81 wird. Sorge- und Reproduktionsarbeit gehören zu den wichtigsten Aufgaben unserer
82 Gesellschaft. Deshalb braucht sie einen Rahmen, der Geschlechtergerechtigkeit auch in der
83 Wirtschaft sicherstellt.
84 (111) Zukunftsfähiges Wirtschaften braucht Planungssicherheit. Staatliche Wirtschafts-,
85 Investitions- und Infrastrukturpolitik muss langfristig und verlässlich stattfinden. Um
86 erfolgreich und nachhaltig zu wirtschaften, brauchen Unternehmen eine moderne und intakte
87 Infrastruktur, gut ausgebildete Fachkräfte, gute Finanzierungsbedingungen, eine
88 funktionierende öffentliche Verwaltung sowie soziale Stabilität und Rechtssicherheit. Dazu
89 zählen auch schnellere, bessere Planungsverfahren durch frühzeitige und wirksame
90 Verfahrensbeteiligung sowie Behörden und Gerichte mit ausreichendem Personal und einer
91 vollständig elektronischen Abwicklung von Anträgen.
92 (112) Infrastrukturen sind eine öffentliche Aufgabe. Öffentliche Güter und Institutionen
93 sowie soziale Infrastrukturen und bezahlbarer Wohnraum sind sicher zu stellen und müssen für
94 alle zugänglich sein. Grundinfrastrukturen der Sicherheit, des Rechts, der Mobilität und der
95 Verwaltung gehören in öffentliche Hand. Güter und Dienstleistungen von allgemeinem
96 Interesse, die kommunale Daseinsvorsorge und Selbstverwaltung müssen in öffentliche Hand und
97 von Marktmechanismen und Wettbewerb ausgenommen bleiben.Der Zugang zu öffentlichen Gütern,
98 die gesellschaftliche Teilhabe fördern - wie kommunale Freizeit- und Kultureinrichtungen –
99 soll daher bedarfsgerecht kostenlos ermöglicht werden. Die Beschaffungen des öffentlichen
100 Sektors müssen sich stärker an ökologischen und sozialen Faktoren, nicht nur am Preis
101 orientieren.
102 Wirtschafts- und Industriepolitik
103 (113) Wettbewerb unter gleichen Bedingungen ist die Voraussetzung dafür, dass Märkte
104 effizient funktionieren und Wohlstand und Fortschritt in nachhaltiger Weise hervorbringen
105 können. Es ist Aufgabe von Politik, Machtstellungen und Monopole zu verhindern und
106 aufzubrechen sowie jene Bereiche einer Gesellschaft zu definieren und auszugestalten, die
107 nicht durch Märkte dominiert werden sollen.
108 (114) Dumping, Protektionismus und mangelnde Regulierung führen zu unfairem Wettbewerb.
109 Darunter leiden viele Unternehmen in Europa und weltweit. Der Erwerb von
110 Unternehmensbeteiligungen, Direktinvestitionen, Marktzutritte und auch die Vergabe
111 öffentlicher Aufträge durch und an Dritte sollen auf der Basis von Standards und
112 Gegenseitigkeit erfolgen. Außereuropäische Übernahmen müssen dann, wenn nötig, auch
113 untersagt werden. Kritische Infrastruktur und Schlüsselindustrien gilt es zu schützen.
114 (115) Regulierung ist kein Selbstzweck. Sie muss sich an gesellschaftlichen Zielen
115 orientieren. Sie sollte Individuen und Unternehmen möglichst viel Freiheit in Bezug auf die
116 gewählten Mittel lassen. Es ist laufend zu überprüfen, ob es bestimmter Vorschriften noch
117 bedarf und sie ihren Schutzzweck weiterhin erfüllen. Dabei ist zu beachten, dass sowohl
118 ungeeignete politische Regeln als auch fehlende politische Regulierung Wettbewerb
22
119 einschränken und Marktmacht zementieren können. Regulierungen müssen so ausgestaltet sein,
120 dass sie nicht als Barriere für Gründungen wirken und zum Wettbewerbsnachteil für kleine
121 Unternehmen und das Handwerk werden. Sie sollen stattdessen bewirken, dass Machtunterschiede
122 möglichst ausgeglichen werden.
123 (116)Digitale Plattformen durchdringen immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen und
124 wirtschaftlichen Lebens. Sie sind Grundlage von Wertschöpfung und neuen Geschäftsmodellen
125 und sollten daher im Fokus wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Gestaltung stehen.
126 Plattformen müssen umfassend reguliert werden, um Grundrechte zu schützen, wachsende
127 wirtschaftliche Macht zu begrenzen, faire Wettbewerbs- und Arbeitsbedingungen
128 sicherzustellen sowie gemeinwohlorientierte Innovationen zu ermöglichen. Europa braucht
129 öffentlich-rechtliche wie auch gemeinnützige Alternativen zu den bisherigen privaten
130 Monopolen. Diese können Bürger*innen die Möglichkeit bieten, sich sowohl lokal als auch
131 digital zu organisieren und politisch Einfluss zu nehmen. Digitale Plattformen sind Teil der
132 Infrastruktur und müssen barrierefrei sein.
133 (117) Wirtschaftspolitisch muss der Staat mehr tun, als nur einen Rahmen zu setzen.
134 Deutschland kann nur mit einer nachhaltigen Wirtschaftsweise seine internationale Position
135 als globaler Industriestandort wahren, mit neuen Wertschöpfungsketten, neuen Produkten,
136 guten Arbeitsplätzen und zukunftsfähigen Geschäftsmodellen. Dazu braucht es eine aktive
137 Industriepolitik, die neuen Technologien zum Durchbruch verhilft, gerade da, wo der Markt
138 das Risiko scheut. Sie muss für fairen Wettbewerb sorgen, in Forschung, Digitalisierung und
139 die sozial-ökologische Transformation investieren, Arbeitsplätze schaffen und sichern und
140 die Gleichberechtigung der Geschlechter und nichtdiskriminierende Zugangsvoraussetzungen
141 sicherstellen.
142 (118) Unternehmer*innen dürfen nicht gezwungen werden, sich zwischen einem wirtschaftlich
143 erfolgreichen Weg oder einer sozialen und ökologischen Ausrichtung des Unternehmens zu
144 entscheiden. Wirtschaftliche Aktivität muss sich an langfristigen Zielen und
145 gesamtgesellschaftlichem Wohlstand ausrichten. Die Finanzberichterstattung soll mit
146 Langfristzielen ergänzt werden sowie mit verbindlichen Indikatoren, die im Kontext einer am
147 Gemeinwohl orientierten Bilanzierung die sozialen, ökologischen und gesellschaftlichen
148 Auswirkungen messen.
149 (119) Schlüsselprojekt einer sozial-ökologischen Industrie- und Innovationspolitik ist die
150 vollständige Dekarbonisierung der Produktionsprozesse in der gesamten Lieferkette.
151 Automobil- und Chemieindustrie sowie der Maschinenbau waren die Säulen des Erfolges der
152 deutschen Wirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten, aber diese Branchen müssen sich neu
153 erfinden, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden. Dabei kann die
154 deutsche Industrie auf das bauen, was sie – ganz besonders den Mittelstand – stark gemacht
155 hat: ihre Ingenieurskunst, ihre Kreativität, die Sozialpartnerschaft mit den Gewerkschaften
156 sowie ihre europäische und globale Orientierung.
157 (120) Das Handwerk ist einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren in Deutschland. In seiner
158 Vielfalt ist das Handwerk Voraussetzung für die Stadt der kurzen Wege, für attraktive
159 Regionen und für die sozial-ökologische Transformation. Das Handwerk muss dabei unterstützt
160 werden, seine Expertise, Qualität und Traditionen in die Zukunft zu übertragen und seine
23
161 wichtige Rolle am Arbeitsmarkt, insbesondere bei der Ausbildung von Fachkräften zu stärken
162 und auch in strukturschwachen Regionen zu erhalten und zu fördern.
163 (121) Tourismus ist zukunftsfähig, wenn er in seinen vielfältigen Erscheinungsformen
164 verantwortungsvoll und nachhaltig ist. Dazu gehören die gleichberechtigte Partizipation
165 aller Akteur*innen, die Umsetzung von Umwelt-, Natur- und Klimaschutz, die Stärkung der
166 lokalen Wirtschaft sowie eine Balance zwischen öffentlicher und individueller Mobilität.
167 Soziale, ökologische und kulturelle Belastungen von Reisen sollten im Einklang mit den
168 Gegebenheiten vor Ort sein beziehungsweise kompensiert werden.
169 (122) Entscheidend für eine Dekarbonisierung von Produktion und Konsum ist ihre Einbettung
170 in eine Kreislaufwirtschaft. Produktion und Konsum finden dabei so weit wie möglich in einem
171 regionalen Kreislaufsystem statt, sodass weniger endliche Ressourcen verwendet werden
172 müssen. Zentral dabei ist ein umfassendes Gebot für ressourcensparendes und
173 kreislauftaugliches Produktdesign. So wird die Zahl der neu produzierten Waren und Güter
174 minimiert, Produkte werden langlebiger und können repariert oder wiederaufbereitet werden.
175 (123) Als einer der größten Wirtschaftsräume der Welt kann die Europäische Union mit dem
176 gemeinsamen Binnenmarkt weltweit Standards setzen. Das gilt es zu nutzen, um die
177 Transformation voranzubringen, Menschenrechte zu schützen, wettbewerbsfähig zu bleiben,
178 Innovationen und Wertschöpfung zu fördern, sich weniger abhängig von anderen globalen
179 Playern zu machen und zugleich in der noch weitestgehend unregulierten digitalen Welt
180 Bürger*innen- und Verbraucher*innen-Rechte zu sichern.
181 (124) Die Grundstoffindustrie wird auch künftig ein zentraler Baustein bleiben. In einem
182 gemeinsamen Zusammenspiel von ökologischer und technologischer Innovation, Digitalisierung,
183 branchenübergreifender Kooperation und planungssicherer politischer Rahmensetzung sind die
184 Grundlagen dafür zu legen, dass Stahl, Beton, Baustoffe, Aluminium, Glas, Papier oder
185 Chemikalien weiter in Europa produziert werden. Die dafür nötigen Transformationsschritte
186 müssen wettbewerbsrechtlich ausgeglichen werden.
187 (125) Statt einer Abhängigkeit Europas im Bereich technischer Entwicklungen und Erfindungen
188 brauchen wir ausreichend eigene Produktions- und Entwicklungskapazitäten für systemrelevante
189 Produkte wie medizinische Präparate oder Techniken der kritischen Infrastruktur. Die
190 Regionalisierung in kritischen Bereichen und eine globale Kooperation gehören zusammen. Der
191 Markt allein kann das nicht richten.
192 (126) Das freie Unternehmer*innentum, die Gründer*innen und Start-ups sind die Treiber*innen
193 für Innovation. Grundlage für Neugründungen und Fortschritt sind Wagniskapital und
194 öffentliche wie private Investitionen in Forschung und Entwicklung. Wirtschafts- und
195 Forschungspolitik begünstigt neue Ideen zur sozial-ökologischen Transformation. Sie fördert
196 die Vernetzung von kleinen Unternehmen, Start-ups und Ausgründungen aus Hochschulen
197 europaweit. Sie unterstützt bei der Finanzierung, dem Zugang zu Ressourcen und beim Transfer
198 von Grundlagenforschung in die Praxis. Damit entstehen attraktive Rahmenbedingungen und
199 Diversität, für die besten Forscher*innen, Gründer*innen und Fachkräfte.
200 Eigentum und Gemeinwohl
201 (127) Ohne Recht auf Eigentum sind eine freiheitliche Gesellschaft und eine sozial-
24
202 ökologische Marktwirtschaft unvorstellbar. Gleichzeitig verpflichtet es gesellschaftlich,
203 weil eine zu starke Konzentration von Eigentum in den Händen Weniger Demokratie und
204 Marktwirtschaft bedroht. Es braucht eine gleichere Verteilung von Vermögen und Chancen.
205 (128) Grund und Boden unterliegen einer besonderen Sozialpflichtigkeit, weil sie
206 unvermehrbar und unverzichtbar sind. Deshalb müssen Renditen in diesem Bereich begrenzt sein
207 sowie Grund und Boden verstärkt in öffentliches oder gemeinwohlorientiertes Eigentum
208 überführt werden. Zum Wohl der Allgemeinheit bietet das Grundgesetz als letzte Möglichkeit
209 die Vergesellschaftung sowie die Enteignung, wo Märkte aus dem Ruder geraten.
210 Bodenwertsteigerungen werden gedämpft und bei Planungsrechtsänderungen wird die öffentliche
211 Hand beteiligt. Die Flächeninanspruchnahme ist zu begrenzen. Unser Ziel ist, den
212 Flächenverbrauch auf Netto Null zu senken und der Staat muss für vielfältig Besitzstrukturen
213 sorgen und eine gerechte Verteilung fördern.
214 (129) Es braucht neue Formen von gemeinwohlorientiertem oder gemeinschaftlichem Eigentum und
215 eine stärkere Gemeinwohlbindung. Genossenschaften und soziale Unternehmen leisten einen
216 wichtigen Beitrag hin zu einer gemeinwohlorientierten Wirtschaft. Ziel ist, dass Private
217 ihre Dienstleistungen und Produkte barrierefrei anbieten.
218 (130) Wissen wächst, wenn es geteilt wird. Der offene Zugang zu Wissen für alle Menschen
219 erhöht Innovationskraft, Wohlstand und Gerechtigkeit. Dabei wollen wir einen fairen Umgang
220 mit Wissen und Werken, Anreize zur Wissensgenerierung und die Stärkung offener und freier
221 Lizenzen. Die automatisierte Durchsetzung von exklusiven Eigentumsrechten darf die
222 Kommunikationsfreiheiten nicht einschränken. So viel Wissen wie möglich soll
223 Menschheitswissen werden und von der Allgemeinheit genutzt werden können. Bei kulturellen
224 Werken muss für Urheber*innen eine angemessene Vergütung sichergestellt werden.
225 Öffentlich finanziertes Wissen soll grundsätzlich allen kostenfrei zur Verfügung stehen.
226 Finanzmärkte und Banken
227 (131) Finanzmärkte und Banken haben die Aufgabe, realwirtschaftliche Investitionen zu
228 finanzieren und Sparer*innen attraktive Anlagemöglichkeiten zu bieten. Durch die
229 Deregulierung der Märkte geriet jedoch die Spekulation mit unproduktiven, komplexen
230 Finanzprodukten zum Hauptzweck. Spekulationen müssen eingedämmt werden und wir müssen zurück
231 zum sogenannten „boring banking“, bei dem die langfristige Finanzierung im Vordergrund steht
232 und nicht die kurzfristige Spekulation. Dafür muss das Einlagen- und Kreditgeschäft vom
233 riskanten Investmentbanking abgetrennt werden (Trennbankensystem). Es braucht einen
234 Finanzmarkt, der sich an der Finanzierung des Gemeinwohls beteiligt und es fördert statt ihm
235 zu schaden.
236 (32) Gute Finanzinstitute sind Grundpfeiler moderner Volkswirtschaften. Werden sie zu groß,
237 werden sie zur Gefahr. Deshalb sollte keine Bank oder Versicherung so groß sein, dass sie
238 eine ganze Volkswirtschaft in den Abgrund reißen kann. Eine Abwicklung muss ohne Rückgriff
239 auf Steuermittel jederzeit möglich sein. Außerdem brauchen Banken und Versicherungen eine
240 gute Eigenkapitalausstattung und wirksame Haftungsregeln.
241 (133) Deutschlands bestehendes Drei-Säulen-Bankwesen mit seinen vielen kleinen, lokalen
242 Banken hat sich bewährt. Der Finanzmarkt braucht eine effektive Aufsicht sowie einfache,
25
243 glasklare Regeln ohne Lücken, die für alle gelten – egal ob Banken, Hedgefonds, FinTechs
244 oder andere Finanzdienstleister. Diese Aufsicht soll mit klaren Zuständigkeiten einen
245 transparenten Finanzmarkt garantieren . Kleine Banken, von denen keine Gefahr für das
246 Finanzsystem ausgeht, müssen nicht so umfassend reguliert und beaufsichtigt werden wie
247 Großbanken.
248 (134) Finanzmärkte haben eine wichtige Funktion für die Ausgestaltung der Wirtschaft. Der
249 Umbau zu Klimaschutz und einer sozial-ökologischen Wirtschaftsweise wird beschleunigt, wenn
250 Anlagegelder nicht mehr in die alte, von fossilen Energien getragene Wirtschaft fließen. Die
251 öffentliche Hand und die öffentlich-rechtlichen Finanzinstitute müssen vorangehen und sich
252 vollständig aus Investitionen in Unternehmen zurückziehen, die auf fossile Energien, die
253 Zerstörung von Ökosystemen oder die Verletzung von Menschenrechten bauen. Für Anleger*innen
254 muss zu jeder Zeit transparent sein, welche ökologischen und sozialen Folgen mit ihren
255 Investitionen oder Einlagen verbunden sind. Es gilt, die Klima-, Nachhaltigkeits- und
256 Menschenrechtsrisiken im Finanzsektor durch eine am Gemeinwohl orientierte Bilanzierung
257 offenzulegen und einzupreisen. Das macht die Finanzierung von Investitionen in Klimaschutz
258 und Nachhaltigkeit günstiger als die Bereitstellung von Kapital für andere Zwecke.
259 Geld- und Fiskalpolitik
260 (135) Aufgabe der Geldpolitik von Zentralbanken sowie der Fiskalpolitik ist es, ökonomischen
261 Krisen entgegenzuwirken. Damit sichern sie Arbeitsplätze und Existenzen und fördern so den
262 gesamtgesellschaftlichen Wohlstand. Die Bekämpfung und Vermeidung von Arbeitslosigkeit muss
263 wichtiges Ziel der Politik sein.
264 (136) Die Zentralbanken allein stoßen an Grenzen, wenn es um die Stabilisierung der
265 Wirtschaft in Krisenzeiten geht. Insbesondere die Haushaltspolitik muss einen Beitrag
266 leisten, das Auf und Ab der Konjunktur auszugleichen und tiefe wirtschaftliche Krisen zu
267 verhindern. Deshalb gilt es, stets die Auswirkung von Staatsausgaben auf die
268 Gesamtwirtschaft zu berücksichtigen. Es ist sinnvoll, sowohl auf nationaler als auch auf
269 europäischer Ebene die Spielräume zur Kreditfinanzierung öffentlicher Ausgaben zu nutzen und
270 auszubauen, um Wirtschaftskrisen sowie deren soziale Folgen zu vermeiden und Investitionen
271 für die sozial ökologische Transformation zu ermöglichen. Langfristige Schuldentragfähigkeit
272 ist dabei stets zu gewährleisten und gerade mit Blick auf die Handlungsspielräume künftiger
273 Generationen gesetzlich zu verankern.
274 (137) Unsere gemeinsame europäische Währung trägt zu einem starken gemeinsamen Europa bei.
275 Die Währungsunion ist allerdings ein unvollendetes Projekt geblieben. So verschärfen sich
276 wirtschaftliche Unterschiede und Ungleichgewichte bei Wettbewerbsfähigkeit und Handel, ohne
277 dass es dagegen europäische Instrumente gibt. Daher gilt es, die europäische Währungsunion
278 zu vollenden, sie um eine Fiskal- und Sozialunion zu ergänzen und die dafür notwendigen
279 Vertragsveränderungen auf den Weg zu bringen.
280 (138) Die Zentralbanken sollten eigene Standards für digitale Währungen schaffen. Dazu
281 bedarf es einer europäischen Regulierung für die Entwicklung, die für Verbraucher*innen
282 Rechtssicherheit schafft. Eine Aushöhlung des Geld- und Währungsmonopols über private
283 Währungen im Euro-Raum darf nicht zugelassen werden.
284
26
285 (139) Digitale Zahlungen, Kryptowährungen und die Personen hinter den Accounts müssen
286 nachvollziehbar sein. Zur Bekämpfung von Verbrechen wie Geldwäsche, die Darstellung
287 sexualisierter Gewalt gegen Kinder, Steuerhinterziehung und Terror-Finanzierung braucht es
288 eine staatliche Infrastruktur.
289 (140) Die EU braucht eine eigene Zuständigkeit für die Wirtschafts- und Fiskalpolitik. Sie
290 braucht einen Haushalt, der groß genug ist, um makroökonomisch zu stabilisieren und in
291 schweren Krisen Zuschüsse für die nationalen Haushalte leisten und mit europäischen
292 Investitionen reagieren zu können. Dieser Haushalt muss über eigene Steuereinnahmen und
293 Eigenmittel verfügen. Um langfristige Investitionen zu finanzieren und schwere
294 Konjunktureinbrüche abzuwehren und zu bekämpfen, muss sich dieser Haushalt auch über Kredite
295 finanzieren können. Um den Euro zu stärken, müssen Staatsanleihen der Europäischen Union und
296 ihrer Mitgliedstaaten eine absolut sichere Geldanlage darstellen. Ein Zahlungsausfall muss
297 in jedem Fall ausgeschlossen sein.
298 (141) Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank ist ein hohes Gut. Sie gilt es zu
299 bewahren. Krisen haben jedoch gezeigt, dass eine alleinige Ausrichtung auf das Ziel der
300 Preisniveaustabilität ein zu enges Mandat für die Geldpolitik ist. Daher sollte die EZB, wie
301 andere Zentralbanken auch, gleichberechtigt das Ziel der Wohlstandsmehrung und eines hohen
302 Beschäftigungsstands verfolgen. Hohe Zinsunterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten können
303 Staaten hindern aus einer Krise herauszukommen. Insbesondere ohne eine gemeinsame
304 Fiskalpolitik der Eurozone, kann es für die Zentralbank notwendig sein, die Liquidität der
305 Staaten zu garantieren und Zinsunterschiede zu begrenzen.
306 (142) Auf europäischer Ebene ist eine stärkere Harmonisierung und Vergemeinschaftung von
307 wettbewerbssensiblen Steuern notwendig, wie etwa der Besteuerung von Unternehmensgewinnen
308 oder dem CO2 Verbrauch. Lohn- und Tarifpolitik sollten schrittweise stärker aufeinander
309 abgestimmt werden. Im Fall von hohen und dauerhaften Handelsungleichgewichten innerhalb der
310 Währungsunion müssen die Empfehlungen der Europäischen Kommission eine stärkere
311 Verbindlichkeit haben, etwa den Defizit- wie auch den Überschussländern symmetrische
312 Verpflichtungen zum Abbau aufzuerlegen. Mit öffentlichen Investitionen und guten Löhnen wird
313 die Binnennachfrage gestärkt und die Exportüberschüsse Deutschlands abgebaut.
314 Haushalts- und Steuerpolitik
315 (143) Haushaltsmittel gehören allen Bürger*innen. Mit ihnen ist stets sorgsam umzugehen und
316 es ist zu überprüfen, ob die angestrebten gesellschaftlichen Ziele auf effizientem Weg
317 erreicht werden. Dies ist ein wichtiger Beitrag, um Aufgaben wie beispielsweise die
318 Daseinsvorsorge und Infrastrukturinvestitionen finanzieren zu können. Die öffentlichen
319 Haushalte müssen in einer Demokratie klar, transparent und nachvollziehbar sein. Gender
320 Budgeting und die Beachtung von Klimaneutralität sind für einen gerechten Haushalt
321 unerlässlich.
322 (144) Wir stehen zu langfristig nachhaltigen Staatsfinanzen und zu gesetzlichen Regeln für
323 die Begrenzung der Kreditaufnahme. Dabei gilt es, nicht nur die Verbindlichkeiten zu
324 betrachten, sondern auch das Vermögen der öffentlichen Hand zu erhalten und auszubauen.
325 Investitionen in Infrastruktur und Nachhaltigkeit sichern die Handlungsspielräume künftiger
326 Generationen. In diesem Sinne ist der Anteil der öffentlichen Investitionen an der
27
327 Wirtschaftsleistung auszubauen. Für den Ausbau des öffentlichen Vermögens und die
328 langfristige Sicherung unseres Wohlstands kann eine Kreditfinanzierung sinnvoll und
329 pragmatisch geboten sein, insbesondere wenn sie eine gute Rendite verspricht.
330 (145) Infrastruktur ist öffentliche Aufgabe. Eine weitere Privatisierung öffentlicher
331 Unternehmen im Bereich der öffentlichen Pflichtaufgaben der Daseinsvorsorge darf es nicht
332 geben. Öffentlich-private Partnerschaften kommen höchstens nur dann in Betracht, wenn sich
333 durch sie ein Mehrwert oder geringere Kosten für die Steuerzahler*innen ergeben.
334 (146) Unser Steuersystem stellt die Finanzierung öffentlicher Aufgaben sicher. Es braucht
335 ein gerechtes Steuersystem, das verständlich und effizient ist und zu einer Angleichung der
336 Einkommen
337 führt. Das ist Grundlage für Akzeptanz und reduziert soziale Ungleichheit.
338 (147) Ein Steuersystem, das wirtschaftliche Dynamik schaffen will, begünstigt neue
339 Aktivitäten und Investitionen und besteuert Vermögen sowie leistungslose Einkommen. Das
340 Aufkommen der Steuern aus Kapitaleinkommen, aus großen Vermögen und Erbschaften muss wieder
341 deutlich erhöht werden. Die Besteuerung von Kapitaleinkommen muss mindestens dem Maß der
342 Besteuerung der Erwerbstätigkeit entsprechen. Der Vermögensaufbau von einkommensschwachen
343 Gruppen soll gefördert werden.
344 (148) Steuern lenken. Steuersysteme sollen gesellschaftliche Ziele abbilden. Nicht am
345 Gemeinwohl orientierte und ökologisch schädliche Tätigkeiten und Produkte sollen stärker
346 besteuert und damit verteuert werden. Die Steuerlast stärker vom Faktor Arbeit auf
347 Ressourcenverbrauch und Einkommen aus Kapital- und Bodenbesitz zu verlagern, begünstigt den
348 ökologischen Umbau und soziales Engagement.
349 (149) Steuerdumping schadet Volkswirtschaften. Unternehmensgewinne und digitale Umsätze
350 müssen stärker am Ort des Konsums besteuert und eine gemeinsame europäische
351 Bemessungsgrundlage muss eingeführt werden.
352 (150) Alle sollen sich ihrer finanziellen Lage entsprechend am Gemeinwohl beteiligen, denn
353 Daseinsvorsorge und Sozialsystem sind nur solidarisch zu finanzieren. Die Besteuerung soll
354 progressiver und damit eine Trendumkehr eingeleitet werden. Dafür braucht es Transparenz
355 über wirtschaftliche Verhältnisse und eine Verwaltung, die in der Lage ist, das Recht
356 durchzusetzen. Steuerhinterziehung und -umgehung, Schwarzarbeit, Geldwäsche und Sozialbetrug
357 sind mit allen Mitteln zu bekämpfen.
28
Antragstext
1 Kapitel 3: Fortschritt gestalten
2 Wissenschaft und Forschung
3 (151) Im Zentrum allen Fortschritts steht der Mensch in seiner Würde und Freiheit. Der
4 wissenschaftliche, technologische und gesellschaftliche Wandel muss so gestaltet werden,
5 dass er Mensch und Umwelt nützt.
6 (152) Freie Wissenschaft und freie Forschung schaffen Zukunft, indem sie einen
7 unverzichtbaren Beitrag zur vernunftgeleiteten Verständigung der Menschheit über gemeinsame
8 Herausforderungen leisten. Vielfalt an Wissen und Zugängen ermöglicht zukunftstaugliche
9 Lösungen bei Krisen. Frei denken und experimentieren, auch ohne unmittelbaren
10 Verwertungszweck, ist Basis für neue Ideen und Kreativität. Forschungs- und Erfindungsgeist
11 helfen, Transformationen zu gestalten. Sie können nur in Freiheit gedeihen und genießen zu
12 Recht besonderen Schutz, nicht zuletzt vor staatlichen Eingriffen. Forschung ist offen für
13 die Beteiligung der Gesellschaft im Sinne einer Bürger*innen-Wissenschaft (Citizen Science).
14 (153) Forschungsergebnisse auf der Basis von freiem Denken und Experimentieren sind zunächst
15 Möglichkeiten – mit Vor- und Nachteilen. Sie bieten gesellschaftliche Chancen, tragen aber
16 auch das Risiko, missbraucht zu werden. Demokratische Politik schützt die Unabhängigkeit und
17 Freiheit von Wissenschaft und Forschung. Das beinhaltet die Freiheit, an bestimmten
18 Entwicklungen nicht weiterzuarbeiten, wenn sie gegen ethische Grundprinzipien verstoßen.
19 Politik gestaltet nach dem Vorsorgeprinzip und am Gemeinwohl orientiert Leitplanken für die
20 Nutzung und Anwendung. Die zivile Ausrichtung von Wissenschaft ist zentral.
21 (154) Mithilfe der Wissenschaft kann unsere Gesellschaft die vor uns liegenden
22 Herausforderungen in Angriff nehmen, wie etwa die Wasserknappheit oder die Klimakrise.
23 Wissenschaftlich-technologischer Fortschritt hat menschliches Leben fundamental verbessert.
24 Er hat aber auch zu vielen globalen Krisen beigetragen und ist zugleich ein Weg, sie zu
25 lösen.
26 (155) Um qualifiziert abwägen und entscheiden zu können, braucht es Forschung. Forschung an
27 Technologien braucht auch die Forschung zu ihren Risiken und Auswirkungen. Ethische Fragen
28 müssen in der Wissenschaft und mit der Gesellschaft diskutiert und demokratisch verhandelt
29 werden. Gute Politik orientiert sich an nachprüfbaren Fakten und wissenschaftlichen
30 Erkenntnissen. Wissenschaft kann Politik jedoch nicht ersetzen.
31 (156) Gerade die freie, auf Neugier und Erkenntnis gerichtete Grundlagenforschung ist neben
32 der Anwendungsforschung zur Bewältigung großer gesellschaftlicher Herausforderungen
33 ausreichend abzusichern. Wir brauchen eine Vielzahl von Alternativen und können angesichts
Fortschritt gestalten
GSP.F-01NEU: Kapitel 3: Fortschritt gestalten
Antragsteller*in: Bundesdelegiertenkonferenz
29
34 der vielfältigen Krisen in der Welt keine Möglichkeit, sie zu bewältigen, von vornherein
35 ausschließen. Entsprechend brauchen wir mehr und strukturell gut ausfinanzierte
36 Grundlagenforschung innerhalb eines starken, weltoffenen und global vernetzten europäischen
37 Forschungs- und Hochschulraums, der Freiheit und Unabhängigkeit sichert.
38 (157) Grundlage für das gesellschaftliche Vertrauen in Wissenschaft sind hohe Standards
39 wissenschaftlicher Arbeit sowie ein Grundwissen über wissenschaftliche Herangehensweisen.
40 Die Etablierung methodischer Standards und Überprüfung wissenschaftlicher Ergebnisse obliegt
41 der Gemeinschaft der Wissenschaftler*innen. Forschung muss sich immer auch kritisch
42 reflektieren, in allen Disziplinen Machtverhältnisse hinterfragen und vielfältig in der Wahl
43 von Methoden, Theorien und Arbeitsweisen sein. Darüber hinaus sind der freie
44 Informationsaustausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, die Überprüfbarkeit von
45 Interessenskonflikten sowie der öffentliche Zugang zu Forschungsergebnissen und
46 Datengrundlagen Grundprinzipien einer demokratischen Wissenschaft. Öffentliche Regulierung,
47 beispielsweise der Zulassung neuartiger Technologien oder Präparate, legitimiert sich durch
48 demokratische Prozesse.
49 (158) Eine freie, auskömmlich öffentlich finanzierte Wissenschaft muss auch der Gesellschaft
50 mit Offenheit gegenübertreten. Deswegen braucht es Transparenz darüber, wie Forschung
51 finanziert wird, welche Projekte und Themen beforscht werden. Forschungsförderung zielt auf
52 Erkenntnisgewinn. Öffentlich finanzierte Forschungsergebnisse müssen der Gesellschaft im
53 Sinne der Open Science zugänglich gemacht werden.
54 (159) Hochschulen und Forschungseinrichtungen sind als unabhängige öffentliche Einrichtungen
55 auch für das Entstehen sozialer und technologischer Innovationen unabdingbar. Das
56 funktioniert nur mit einer auskömmlichen Grundfinanzierung der Wissenschaft, die eine
57 Unabhängigkeit von Drittmittelfinanzierung und somit freie Bildung und Forschung aus
58 Neugierde ermöglicht. Die Verzahnung von Lehre, Wissenschaft und Gesellschaft sichert ihren
59 Bildungsauftrag, der sich am Gemeinwohl orientiert.
60 (160) Hochschulen waren und sind ein Ort der kritischen Selbstreflexion unserer
61 Gesellschaft. Wissenschaft analysiert gesellschaftliche Veränderungen, erkennt frühzeitig
62 politische Umbrüche und diskutiert sie. In einer komplexer werdenden Welt gewinnen Geistes63 und Sozialwissenschaften sowie ihre interdisziplinäre Verzahnung mit den Ingenieurs- und
64 Naturwissenschaften an Bedeutung, ebenso plurale Ansätze innerhalb der Disziplinen.
65 (161) Wissenschaftler*innen und Studierende brauchen zeitliche und inhaltliche Freiräume, um
66 aus dem Studium mehr mitzunehmen als nur berufsbezogenes Wissen. Bildung dient zuallererst
67 der menschlichen Entfaltung. Das Studium soll frei, partizipativ und grundsätzlich für alle
68 gebührenfrei sein. Studieren muss unabhängig von Alter, Geschlecht, Behinderung, Lebenslagen
69 sowie unabhängig von sozialer und geographischer Herkunft möglich sein. Das Studium muss
70 diskriminierungsfrei, familien- und gendergerecht sein. Nachhaltig finanzierte
71 Studierendenwerke sichern ein hürdenfreies Studium. Forschung braucht Vielfalt an Talenten.
72
73 (162) Personengruppen und Perspektiven, die bislang im Wissenschaftssystem
74 unterrepräsentiert sind, sollen gezielt eingebunden und gefördert werden. Eine demokratische
75 Hochschulkultur braucht eine starke Selbstverwaltung und die gleichberechtigte Teilhabe und
30
76 Mitbestimmung aller Statusgruppen. Dafür bedarf es verfasster Studierendenschaften und einer
77 ausgeglichenen Besetzung aller Hochschulgremien. Sozial verträgliche Arbeitsbedingungen und
78 verlässliche Beschäftigung sind die Grundlage, damit (Nachwuchs-)Wissenschaftler*innen frei
79 und ohne Selbstausbeutung forschen und lehren können.
80
81 (163) Die Menschheit gewinnt durch Raumfahrt Erkenntnisse über die fundamentalen Fragen
82 des Universums und unseren Planeten, mehr Verständnis für globale Probleme sowie
83 technologische Innovationen. Daher soll Europa den Zukunftssektor Raumfahrt stärken,
84 internationale Wissenschaftskooperationen vorantreiben, seinen unabhängigen Zugang zum All
85 erhalten und am Astronaut*innen-Programm festhalten. Der Weltraum darf ausschließlich
86 friedlich und zum gemeinsamen Wohle der Menschheit erkundet und genutzt werden. Dazu bedarf
87 es eines neuen internationalen Rechtsrahmens, der auch private Akteure klarer regulieren
88 muss.
89 Bioethik
90 (164) Im medizinischen Bereich stellen sich ethische Fragen nach den Grenzen des Handelns
91 ganz besonders. Vor allem dort, wo durch Veränderungen des Erbguts auch das Leben künftiger
92 Generationen betroffen ist. Eingriffe in die menschliche Keimbahn müssen ausgeschlossen und
93 der strenge Embryonenschutz, der bereits eine Selektion von Embryonen ausschließt, muss
94 beibehalten werden.
95 (165) In der Medizin braucht es eine vorausschauende Ethik mit klaren Kriterien:
96 Menschenwürde, Freiheit und Selbstbestimmung sowie Verantwortung gegenüber den nachfolgenden
97 Generationen. Vorausschauend können zum Beispiel Moratorien sein, um ethische Grenzfragen
98 genauer beurteilen sowie Risiken, Gefahren und Auswirkungen auf künftige Generationen
99 exakter abschätzen zu können oder Forschungen auch gar nicht durchzuführen. Das Klonen von
100 Menschen ist auszuschließen. Tierversuche müssen konsequent reduziert und überflüssig
101 gemacht werden.
102 (166) Menschen sollen selbstbestimmt Entscheidungen über ihren Körper und ihr Leben treffen
103 können. Voraussetzung dafür ist eine umfassende Information, damit Vor- und Nachteile
104 abgewogen werden können.
105 (167) Reproduktionsmedizin kann die Möglichkeiten zur selbstbestimmten Elternschaft,
106 insbesondere für kinderlose, für queere, inter und trans Personen mit Kinderwunsch,
107 erweitern. Neue Möglichkeiten erfordern Abwägungen, welche Methoden medizinisch und ethisch
108 vertretbar sind. Die Reproduktionsmedizin hat Grenzen, wo sie die Gesundheit der Betroffenen
109 oder Dritter schädigt. Der Zugang muss diskriminierungsfrei sein. Frauen, aber auch inter
110 und trans Personen, müssen frei von patriarchaler Bevormundung und ökonomischem Druck
111 entscheiden können, ob und welche Möglichkeiten sie in Anspruch nehmen. Alle Kinder
112 benötigen einen klaren Rechtsstatus. Das Persönlichkeitsrecht auf Wissen der eigenen
113 Abstammung muss für alle Kinder gewahrt werden.
114 (168)
115 In Medizin und biotechnologischen Anwendungen konnten durch die Gentechnik wichtige
116 Fortschritte erzielt werden, während im Agrarbereich ihre Anwendung zu neuen Problemen
31
117 geführt hat. Wie bei jeder Technologie muss der politische Kompass zum Umgang mit alten wie
118 neuen gentechnischen Verfahren sein, einerseits die Freiheit der Forschung zu gewährleisten
119 und andererseits bei der Anwendung Gefahren für Mensch und Umwelt auszuschließen. Nicht die
120 Technologie, sondern ihre Chancen, Risiken und Folgen stehen im Zentrum. Es gilt daher, an
121 einem strengen Zulassungsverfahren und am europäisch verankerten Vorsorgeprinzip
122 festzuhalten. Dazu bleiben Risikoprüfungen auf umfassender wissenschaftlicher Basis und eine
123 Regulierung nötig, die unkontrollierbare Verbreitung ausschließen und über eine verbindliche
124 Kennzeichnung die gentechnikfreie Produktion und die Wahlfreiheit der Verbraucher*innen
125 schützen. Entsprechend braucht es eine Stärkung der Risiko- und Nachweisforschung. Gerade im
126 Agrarbereich soll die Forschung zu alternativen Ansätzen, die auf traditionelle und
127 ökologische Züchtungsverfahren setzen, gestärkt werden.
128 Digitalisierung
129 (169) Die transformative Kraft der Digitalisierung ist ein großes gesellschaftliches
130 Versprechen. Sie ermöglicht Schlüsseltechnologien, die Wissenschaft voranbringen, Ressourcen
131 einsparen, das Gesundheitssystem unterstützen und den Verkehr effizienter lenken. Politik
132 hat die Aufgabe, die digitale Zukunft durch wertegeleitete Regulierung, Anreize und gezielte
133 Förderung so zu gestalten, dass sie unseren gesellschaftlichen Werten und Rechten
134 entspricht. Ziel dabei ist es, Grundrechte zu verteidigen, die sozial-ökologische
135 Transformation voranzutreiben, den sozialen Zusammenhalt und die demokratische, kulturelle,
136 materielle und barrierefreie Teilhabe möglichst aller Menschen zu gewährleisten,
137 insbesondere im Sinne nachfolgender Generationen. Digitalisierung ist konsequent an
138 Nachhaltigkeit auszurichten und so zu gestalten, dass sie Freiheit und Selbstbestimmung
139 stärkt statt sie einzugrenzen. Voraussetzung dafür ist, die offene und demokratische
140 Diskussionskultur auch online zu wahren, eine zunehmende Militarisierung ziviler
141 Infrastrukturen zu verhindern und einem nur von wirtschaftlichen Interessen dominierten
142 Internet entgegenzutreten. Eine selbstbestimmte digitale Zukunft ist nur möglich durch den
143 Aufbau notwendiger Expertise und deren Sicherung in einer engen europäischen und
144 internationalen Kooperation von Wissenschaft, Wirtschaft, öffentlichen Stellen und
145 Zivilgesellschaft.
146
147 (170) Ein Mensch ohne Privatsphäre ist niemals frei. Transparenz, Nachvollziehbarkeit und
148 Nichtdiskriminierung bei der Verarbeitung von Daten sind sicherzustellen, sowohl beim Staat
149 als auch privaten Akteuren. Daten- und Menschenrechtsschutz, die informationelle
150 Selbstbestimmung, die informationstechnische Integrität und Sicherheit gilt es, entschlossen
151 zu verteidigen und auszubauen. Die Verantwortung dafür darf nicht allein auf das Individuum
152 abgeschoben werden. Entsprechend sind kollektive Schutz- und Abwehrrechte sowie die digitale
153 Souveränität zu stärken. Digitale Angebote anonym nutzen zu können, erfüllt eine wichtige
154 Schutzfunktion und ist zugleich Ausdruck digitaler Freiheit und Selbstbestimmung,
155 insbesondere für vulnerable Gruppen.
156
157 (171) Offenheit muss ein Leitprinzip für den digitalen Wandel sein. Die Verfügbarkeit von
158 Daten ist durch europäische, datenschutzkonforme, dezentrale und kooperative Datenökosysteme
159 zu ermöglichen und zu fördern. Sie sind beispielsweise Grundlage für intelligente Medizin,
32
160 vernetzte Mobilität und eine diverse Digitalwirtschaft. Übermäßige Datenmacht und sich
161 selbst verstärkende Datenmonopole sind zu verhindern und aufzubrechen. Offene Daten, offene
162 Software, offene Standards und offene Schnittstellen müssen politisch gefördert werden und
163 Standard sein, wenn öffentliche Gelder aufgewendet werden.
164
165 (172) Jeder Mensch hat ein Recht, sich frei zu informieren und zu kommunizieren, sowie auf
166 einen offenen und schnellen Zugang zum Internet. Statt digitaler Schranken entlang
167 nationaler Grenzen, muss der online-gestützte grenzüberschreitende Austausch gewährleistet
168 werden. Die digitale Transformation kann allen Individuen mehr Macht verleihen. Große Teile
169 gesellschaftlicher Willensbildung und der dafür notwendigen Debatten spielen sich inzwischen
170 digital ab, einhergehend mit weitaus größeren Beteiligungsmöglichkeiten. Diese Potentiale
171 müssen besser für demokratische Prozesse nutzbar gemacht und vor Manipulationen und
172 Desinformation geschützt werden. Aufgrund niedrigschwelliger Eingriffsmöglichkeiten für
173 Unternehmen und staatliche Stellen, benötigen digitale Räume einen besonderen Schutz.
174 (173) Übermäßige Datenmacht und Datenmonopole gilt es zu verhindern und aufzubrechen.
175 Unternehmen und Behörden, die über viele Daten verfügen, müssen ihre Daten außerhalb von
176 B2B- oder Industrieplattformen der Allgemeinheit anonymisiert zur Verfügung stellen. Open
177 Source, Open Data und höchste Daten- und Verbraucher*innen-Schutz-Standards sind die
178 europäische Antwort, um einer unkontrollierten Datenmacht von Staaten wie von Unternehmen
179 entgegenzuwirken.
180 (174) Datenverarbeitende und selbstlernende Systeme haben das Potential, neues Wissen zu
181 generieren und so nachhaltigeres Handeln zu ermöglichen. Sie greifen aber auch teils direkt
182 in die Lebenswelt der Menschen ein und treffen eigene Entscheidungen. Deshalb braucht es für
183 diese Systeme klare, abgestufte Regeln zur Nachvollziehbarkeit, zum Datenschutz und zur
184 Datenqualität um Kontrolle und Haftung zu ermöglichen.
185 (175) Ethisch-normative Prinzipien dürfen nur von Menschen aufgestellt werden.
186 Automatisierte Entscheidungen müssen von natürlichen oder juristischen Personen verantwortet
187 werden. Entscheidungen über Leben und Tod dürfen nur von Menschen getroffen werden, nicht
188 von Maschinen und Algorithmen. Algorithmen können dabei helfen, Entscheidungen ohne
189 Vorurteile zu treffen. Es braucht gesetzliche Regelungen und Rahmenbedingungen, damit sie
190 bestehende Vorurteile nicht verstärken sondern aktiv zu deren Abbau beitragen.
191
192 (176) Digitalisierung verändert die Prozesse in den Unternehmen. Das hat Auswirkungen auf
193 die Arbeit im Betrieb, auf Tätigkeitsinhalte, Qualifikationsanforderungen und
194 Arbeitsorganisation der Beschäftigten. Es gilt die Potenziale für gute Arbeit zu nutzen,
195 indem die Mitbestimmung gestärkt wird. Ziel ist, die Digitalisierung sozial zu gestalten,
196 damit die Wirtschaft und auch die Beschäftigten davon profitieren.
197 (177) Frauen sollen die digitale Welt gleichberechtigt mitgestalten. Diversität ist
198 entscheidend für Innovation und Fairness. Es gilt, geschlechtsspezifische Stereotype sowie
199 von männlichen Erwerbsmodellen dominierte Machtstrukturen und Arbeitsformen in den
200 Digitalunternehmen aufzubrechen, damit Frauen sich deutlich stärker in der Digitalwirtschaft
201 etablieren und Vorbilder sein können. Dabei spielt auch das Bildungssystem eine
202 entscheidende Rolle.
33
203 (178) Kinder, Heranwachsende, benachteiligte und verletzliche Menschen benötigen in der
204 digitalen Welt speziellen Schutz. Ihre selbstbestimmte Teilhabe an der digitalen Welt ist zu
205 fördern und ihr Zugang zu elementaren digitalen Gütern und Dienstleistungen zu
206 gewährleisten.
207 (179) In einer global verflochtenen Welt ermöglichen technologische Offenheit und
208 Kooperation Fortschritt für das Gemeinwohl. Damit sich Europas Bürger*innen in dieser Welt
209 mündig, aufgeklärt und damit selbstbestimmt bewegen können, braucht es eine größere
210 technologische Souveränität der Europäischen Union, basierend auf hohen Standards der
211 Sicherheit, der Resilienz und des Datenschutzes. Dies ist der Gegenentwurf sowohl zum
212 ungezähmten Datenkapitalismus als auch zu autoritär gelenkter staatlicher Überwachung.
213 . In einer Wertesystemkonkurrenz zwischen einem regulierten kapitalistischen und einem
214 autoritär gelenkten Fortschritt geht es um eine größere technologische Souveränität Europas,
215 damit sich Europas Bürger*innen auch in einer technisierten Welt mündig, aufgeklärt und
216 damit selbstbestimmt bewegen können. Das gilt insbesondere für die kritische Infrastruktur.
217 Zentrale Technologien soll Europa mit seinen Werten mitgestalten. Es braucht daher eine
218 starke europäische Vernetzung von Spitzenforscher*innen, damit Europa nicht von wesentlichen
219 Zukunftstechnologien abgehängt wird. Digitales Aufrüsten und die Militarisierung ziviler
220 Infrastrukturen muss durch ein entschlossenes internationales Vorgehen verhindert werden.
221 (180) Der Innovationsstandort Europa soll im globalen Kontext gestärkt und ausreichend
222 finanziert werden. Das umfasst die stärkere Förderung offener Hard- und Software sowie
223 offener Standards. Dem Gedanken der Demokratie widersprechen Akkumulationen von Märkten, aus
224 denen weltweit agierende Konzerne hervorgehen, die mächtiger sind als Staaten.
34
Antragstext
1 Kapitel 4: Zusammen leben
2 Zusammenhalt in Vielfalt
3 (181) Offen ist eine Gesellschaft, in der alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, die
4 gleichberechtigte Teilhabe ermöglicht, die die Unterschiedlichkeit von Menschen und Regionen
5 als Stärke verteidigt, die soziale Ungleichheit verringern will, und den Schutz von
6 Minderheiten gewährleistet und Diskriminierung aktiv bekämpft. Individuelle Freiheit und
7 persönliche Identität werden geschützt. Die offene Gesellschaft ist eine gewaltfreie. Ihre
8 Grenzen findet sie in den Rechten und Freiheiten der Mitmenschen. Die offene Gesellschaft
9 hinterfragt sich, lernt und ist selbstkritisch. Sie beruht auf Bedingungen, die sie selbst
10 nicht schützen kann. Deshalb sind der Schutz und die Arbeit für sie eine dauernde politische
11 Aufgabe.
12 (182) Menschen sind unterschiedlich, aber ihre Rechte und ihre Würde sind gleich. Eine
13 vielfältige, diskriminierungsfreie, gleichberechtigte und inklusive Gesellschaft bedeutet
14 demokratischen Fortschritt für alle. Sie entwickelt sich stets weiter und handelt permanent
15 die Regeln ihres Zusammenlebens neu aus. In einer pluralistischen Gesellschaft bilden
16 gleichberechtigte Individuen aus vielfältigen Perspektiven ein Bündnis für ein gemeinsames
17 Wir zum Schutz und zur Förderung von Freiheit und Würde. Das gemeinsame Wir bedeutet
18 Zusammenhalt in einer vielfältigen und inklusiven Gesellschaft.
19 (183) Das gemeinsame Wir schließt alle ein, die in unserem Land leben. Wir sind
20 unterschiedlich, aber uns verbindet Respekt und Akzeptanz allen Menschen gegenüber,
21 unabhängig davon, wie sie leben, lieben, glauben und aussehen. Das macht den Reichtum
22 unseres „Wir“ aus.
23 (184) Eine vielfältige und inklusive Gesellschaft ist eine gleichberechtigte – mit gleichen
24 Rechten, Zugängen und gleicher Teilhabe. In einer vielfältigen Gesellschaft richtet sich
25 Zugehörigkeit nicht danach, wo jemand geboren ist, in welchem Stadtteil jemand wohnt, woher
26 die Eltern kommen oder wie viel sie verdienen, wen jemand liebt, wie jemand aussieht, was
27 jemand glaubt oder wie der Name klingt. Diese Vielfalt soll auch in unserer Partei gerecht
28 repräsentiert werden.
29 (185) Diskriminierung trifft nicht alle gleichermaßen, aber sie geht alle gleichermaßen an.
30 Eine vielfältige Gesellschaft ist diskriminierungskritisch und schützt alle Menschen vor
31 Diskriminierung und Gewalt – im Alltag, ob subtil oder durch gesellschaftliche Strukturen
32 und öffentliche Institutionen.
33 (186) In Deutschland leben Menschen zusammen, deren Familien bereits seit Generationen hier
Zusammen leben
GSP.Z-01NEU: Kapitel 4: Zusammen leben
Antragsteller*in: Bundesdelegiertenkonferenz
35
34 ansässig sind, sowie Menschen, die in jüngerer Zeit eingewandert sind. Hier leben
35 Christ*innen, Jüdinnen und Juden, Muslim*innen, Angehörige anderer Religionen und nicht
36 religiöse Menschen genauso wie Nachkommen von Arbeitsmigrant*innen und von Geflüchteten.
37 Viele bezeichnen sich als Deutsche, manche als Neue Deutsche, Schwarze Deutsche, People of
38 Color, Menschen mit Romani-Hintergrund, Polnisch-Deutsche oder Türkisch-Deutsche und vieles
39 mehr. In einem offenen Deutschland werden alle von allen als dazugehörig anerkannt und
40 können sich zugehörig fühlen. Neuankommende erhalten Unterstützung für ihr Ankommen.
41 (187) Migration gehört zu unserem Alltag, sie prägt und verändert unsere Gesellschaft auf
42 allen Ebenen. Die Einwanderungsgesellschaft wird in Zukunft noch pluraler sein als sie es
43 bereits heute ist. In ihr wird niemand wie selbstverständlich als "Mensch mit
44 Migrationshintergrund" behandelt oder auf eine eventuelle Migrationsgeschichte reduziert und
45 Teilhabe, Rechte, Zugehörigkeit und soziale Positionen werden stets neu ausgehandelt. Eine
46 vielfältige Einwanderungsgesellschaft erfordert die gleichberechtigte politische, soziale
47 und kulturelle Teilhabe von Migrant*innen. Sie ist als Staatsziel im Grundgesetz zu
48 verankern.
49 (188) Menschen, die in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt haben und Teil dieser
50 Gesellschaft geworden sind, sollen einen erleichterten Rechtsanspruch auf Einbürgerung
51 haben. Die Staatsangehörigkeit soll ein dauerhaftes Band rechtlicher Gleichheit, Teilhabe
52 und Zugehörigkeit sicherstellen. Dazu gehören die Ermöglichung von doppelter
53 Staatsangehörigkeit und die Ausweitung des Geburtsrechts. Die deutsche Staatsangehörigkeit
54 soll durch Geburt im Inland erworben werden können, wenn ein Elternteil rechtmäßig seinen
55 gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat. Mehrstaatigkeit bildet die Lebensrealität vieler
56 Menschen ab. Die Staatsangehörigkeit darf auch als Lehre aus dem nationalsozialistischen
57 Unrecht nicht einfach entzogen werden. Auch wer keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzt,
58 aber hier seinen Lebensmittelpunkt hat, hat das Recht auf politische Teilhabe.
59 (189) Die deutsche Gesellschaft ist religiös und weltanschaulich plural. Eine plurale
60 Gesellschaft braucht den friedensorientierten Dialog zwischen Religionen und
61 Weltanschauungen, die unterschiedliche Zugänge zur einen Welt bieten. Es geht um die
62 Bewahrung und Durchsetzung der Freiheit, das persönliche Leben nach eigenen Lebensentwürfen
63 und Wertvorstellungen zu gestalten. Das schließt die Freiheit des religiösen und
64 weltanschaulichen Bekenntnisses ebenso ein wie das Recht, nach anderen Vorstellungen zu
65 leben. Zu dieser Freiheit gehört auch Religions- und Weltanschauungskritik. Voraussetzung
66 für eine Zusammenarbeit mit öffentlichen Stellen ist die uneingeschränkte Anerkennung der
67 verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes und die Unabhängigkeit von autokratischen
68 Regimen. Die Wahrung der grundrechtlichen Normen und Werte kann durch keine Religion
69 relativiert werden, auch nicht bei Fragen der Geschlechtergerechtigkeit und LGBTIQ*. Dass
70 Konfessionsfreie, die mehr als ein Drittel der Gesellschaft ausmachen, weltanschaulich meist
71 nicht organisiert sind, darf nicht zu ihrer Benachteiligung führen.
72
73 (190) Die christlichen Kirchen sind ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft und verleihen
74 ihr vielfältige Impulse. Der säkulare Staat muss sich am Neutralitätsprinzip ausrichten und
75 organisatorisch prinzipiell von ihnen getrennt sein. Das bedeutet aber nicht ein
76 Kooperationsverbot zwischen Staat und Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften. Das
36
77 kooperative Modell des Staatskirchenrechtes soll zu einem pluralen Religionsverfassungsrecht
78 weiterentwickelt werden. Auch in Betrieben in kirchlicher Trägerschaft sind
79 Koalitionsfreiheit, Streikrecht, betriebliche Mitbestimmung, Tarifverhandlungen und eine
80 umfassende Prüfung der Rechte von Arbeitnehmer*innen durch Arbeitsgerichte als soziale
81 Grundrechte zu gewährleisten.
82 (191) Aktives jüdisches Leben in Deutschland und Europa nach den schrecklichen Erfahrungen
83 der Shoa bedeutet eine immerwährende Verantwortung für den deutschen Staat und seine
84 Bürger*innen. Jüdisches Leben in Deutschland zu unterstützen sowie die Sicherheit von
85 Jüdinnen und Juden und jüdischer Einrichtungen zu gewährleisten ist eine wichtige Aufgabe
86 für unsere Gesellschaft. Sich Antisemitismus in jeder Form entgegenzustellen ist die
87 Verpflichtung unseres Rechtsstaates und die beständige Aufgabe aller Menschen in Deutschland
88 und in Europa Antisemitismus ist nicht nur eine Diskriminierungsform, sondern ein
89 Welterklärungsmuster, bei dem Jüdinnen und Juden typischerweise zugleich als minderwertig
90 und überlegen oder gar übermächtig imaginiert werden. Damit ist er oft Grundlage für
91 Verschwörungsideologien, denen konsequent entgegengetreten werden muss. Die Existenz und die
92 Sicherheit Israels als nationale Heimstätte des jüdischen Volkes mit gleichen Rechten für
93 all seine Bürger*innen sind unverhandelbar. Für Frieden und Sicherheit braucht es eine
94 Zweistaatenregelung mit der Schaffung eines souveränen, lebensfähigen und demokratischen
95 Staates Palästinas.
96 (192) Muslim*innen in ihrer Vielfalt sind nach den Angehörigen der großen christlichen
97 Konfessionen die größte religiöse Gruppe in diesem Land. Der Islam gehört damit
98 selbstverständlich zu Deutschland. Moscheen und muslimische Gemeinden müssen vor Bedrohungen
99 und Angriffen geschützt, die Sicherheit von Muslim*innen muss gewährleistet werden.
100 Muslim*innenfeindlichkeit zu bekämpfen ist Aufgabe der gesamten Gesellschaft. Das Anliegen
101 vieler Muslim*innen, anerkannte und gleichberechtigte Religionsgemeinschaft(en) im Sinne und
102 nach den Regeln des Grundgesetzes bilden zu können, verdient Unterstützung. Das Ziel sind
103 Staatsverträge mit islamischen Religionsgemeinschaften, die in keiner strukturellen
104 Abhängigkeit zu einem Staat, einer Partei oder politischen Bewegung und deren oder dessen
105 jeweiliger Regierungspolitik stehen und sich religiös selbst bestimmen.
106 (193) Menschen mit Romani-Hintergrund sind die größte Minderheit in Europa. Sie sind Teil
107 der europäischen Geschichte und Gegenwart seit mehr als 600 Jahren und in Deutschland als
108 nationale Minderheit anerkannt. Kultur und Sprache sind vom Staat zu schützen und zu
109 fördern. Antiziganistische Diskriminierung ist jedoch weit verbreitet und bis in die Mitte
110 der Gesellschaft verankert. Sie findet zum Beispiel bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, im
111 Bereich Bildung und Gesundheit statt. Dagegen einzutreten ist unsere Verpflichtung. Das
112 Erinnern an den lange ignorierten und nicht anerkannten Holocaust an Menschen mit Romani113 Hintergrund in der Zeit des Nationalsozialismus ist unser aller Verantwortung.
114 (194) Inklusion ist ein Menschenrecht. In einer inklusiven Gesellschaft können alle Menschen
115 in ihren Eigenschaften und Lebensformen verschieden sein. Die Rechte von Menschen mit
116 Behinderung und deren gesellschaftliche Teilhabe werden umfassend und wirksam realisiert und
117 geschützt. Um ausschließende und aussondernde Strukturen zu beseitigen, muss die VN118 Behindertenrechtskonvention in allen Punkten umgesetzt werden. Menschen mit Behinderung
119 tragen mit ihren Fähigkeiten und Ressourcen zu dieser Gesellschaft bei. Leben mit
37
120 Behinderung bedeutet besondere Anforderungen zur Selbstbestimmung. Die dafür notwendige
121 Unterstützung muss gewährt werden. Die Verbrechen gegenüber Menschen mit Behinderung in der
122 deutschen Geschichte müssen weiter aufgearbeitet und die Opfer entschädigt werden.
123 Feminismus, Geschlechtergerechtigkeit und queere Rechte
124 (195) Unser Ziel ist die geschlechtergerechte Gesellschaft, Feminismus der Weg dorthin. Er
125 verspricht, echte Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen einzulösen – rechtlich,
126 kulturell und ökonomisch. Feminismus ist eine geteilte Aufgabe aller Geschlechter. Es
127 braucht Männlichkeitsbilder für eine gleichberechtigte Gesellschaft, in der wir Macht,
128 Möglichkeiten und Verantwortung teilen.
129 (196) Eine Gesellschaft, in der gleiche Teilhabe für alle Geschlechter Wirklichkeit ist,
130 schützt und stärkt die Rechte aller Frauen, trans*, inter* und nicht-binären Menschen in
131 ihrer Unterschiedlichkeit und unabhängig von Herkunft, Alter, Behinderung, Sexualität oder
132 Klasse, Religion oder Weltanschauung.. Deshalb verfolgen wir einen Feminismus, der
133 verschiedene Diskriminierungsformen auch in ihrer Verschränkung erkennt und an ihrer
134 Beseitigung arbeitet.
135 (197) Gesellschaftlich vorgegebene Rollenzwänge führen zu ungleichen Chancen und häufig zu
136 individuellem Leid. Patriarchale Strukturen, die ihren Ausdruck in Sexismus und Gewalt
137 finden, behindern Frauen im Job, in der Schule, in der Uni, vor Gericht, im Familienleben,
138 in den Medien, im Internet. Menschen aller Geschlechter profitieren von der Überwindung
139 feststehender Geschlechterrollen. Menschen benötigen von klein auf vielfältige Vorbilder, um
140 sich frei entfalten zu können. Gemeinsam schaffen wir eine Gesellschaft, in der alle
141 Menschen frei von einschränkenden Rollenbildern leben können.
142 (198) Das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper und das eigene Leben muss für
143 alle Menschen, insbesondere auch Frauen, Mädchen, trans*, inter* und nicht-binäre Menschen mit
144 und ohne Behinderung uneingeschränkt gelten. Dieses Recht zu realisieren ist Teil einer
145 guten öffentlichen Gesundheitsversorgung. Zu ihr zählen auch selbstbestimmte
146 Schwangerschaftsabbrüche, die nichts im Strafgesetzbuch verloren haben und deren Kosten
147 grundsätzlich übernommen werden müssen. Alle Menschen haben ausschließlich selbst das Recht,
148 ihr Geschlecht zu definieren. Inter*, trans* und nicht-binäre Menschen haben das Recht, dass
149 ihr selbst definiertes Geschlecht ohne bürokratische oder medizinische Hürden offiziell
150 anerkannt wird.Selbstbestimmung setzt einen umfassenden Schutz vor Gewalt voraus. Im Sinne der
151 Istanbul152 Konvention ist jegliche Form geschlechtsspezifischer, körperlicher, seelischer und
153 sexualisierter Gewalt konsequent zu bekämpfen und als Basis dafür umfangreiche Daten zu
154 geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt zu erheben.
155 (199) Frauen sollen in allen Bereichen der Gesellschaft mitbestimmen und Verantwortung
156 übernehmen können. Gleichberechtigung bedeutet nicht nur, aber auch mehr Frauen in
157 Führungspositionen – in der Politik, in der Zivilgesellschaft, in der Wissenschaft, in der
158 Kultur und der Wirtschaft. Wo freiwillige Selbstverpflichtung nicht hilft, sind Quoten ein
159 wichtiges Instrument für mehr Parität. Sie zielen dabei immer auf eine Welt, in der sie sich
160 selbst überflüssig machen.
38
161 (200) Solidarische Queerpolitik führt die unterschiedlichen Perspektiven von Lesben,
162 Schwulen, Bisexuellen, trans*, inter*, nicht-binären und queeren Menschen zusammen.
163 Aufbauend auf vergangenen Erfolgen, arbeitet sie an der Überwindung bestehender
164 Diskriminierung und schafft damit eine vielfältige und diskriminierungsfreie Gesellschaft.
165 Das bedeutet auch eine Gesellschaft der Geschlechtervielfalt, in der alle Menschen ohne
166 Angst verschieden sein können. Diese geschlechtliche Vielfalt muss sich auch in den Gesetzen
167 unseres Staates widerspiegeln.
168 (201) Freiheit und Würde bedeutet zum Beispiel, sich einem Geschlecht zuzuordnen oder
169 auch nicht. Und es bedeutet, die eigene sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität
170 selbstbestimmt finden und leben zu können. Freiheit und Würde bedeuten auch, gemäß der
171 eigenen sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität die Lebensform, die
172 Partnerschaft und das Familienmodell selbst zu wählen und dafür jeweils die gleichen Rechte
173 und den gleichen Schutz vom Staat zu erhalten. Die staatliche Diskriminierung von inter*,
174 trans* und nicht-binären Menschen ist zu beenden. Antiqueere, homo-, bi- und transfeindliche
175 Ressentiments und Diskriminierung sowie Angriffe auf lesbische, schwule, bisexuelle, trans*,
176 inter*, nicht-binäre und queere Menschen sind menschenrechtliche Verstöße und müssen von der
177 gesamten Gesellschaft klar zurückgewiesen werden. Die Verfolgung und Diskriminierung von
178 LGBTIQ* in der deutschen Vergangenheit muss vollständig aufgearbeitet werden.
179 Stadt und Land, Jung und Alt
180 (202) Die regionale Vielfalt, die verschiedenen historischen Erfahrungen und
181 unterschiedlichen Lebensstile der Menschen machen Deutschland aus. Auch die historische
182 Spaltung in Ost und West durch den Kalten Krieg sowie die Verwerfungen nach der
183 Wiedervereinigung haben Deutschland geprägt. Unterschiede anzuerkennen, zu schützen und
184 zugleich den sozialen Zusammenhalt zu stärken ist unsere Verpflichtung. Es ist Verantwortung
185 des Staates, die Lebensbedingungen in sich ökonomisch und strukturell unterschiedlich
186 entwickelnden Regionen im gesamten Bundesgebiet und auf allen Ebenen anzugleichen – etwa im
187 Verhältnis von ländlichen Gegenden zu Städten, vom Norden zum Süden, von Ost nach West, von
188 schrumpfenden zu wachsenden Regionen.
189 (203) Unsere Gesellschaft ist geprägt durch demographischen Wandel.
190 Bevölkerungsverluste und -zuwächse sind sehr ungleich verteilt, vor allem zwischen Stadt und
191 Land, und sie prägen unterschiedliche Identitäten und kulturelle Erfahrungen. Gleichwertige
192 Lebensverhältnisse herzustellen ist Verfassungsgrundsatz und Kernaufgabe unserer Politik.
193 Was gleichwertig ist, ist aber schwer zu definieren und hängt immer auch von individuellen
194 Vorlieben ab. Während es in Großstadtregionen oft gute Infrastruktur und staatlichen
195 Institutionen gibt, ist bezahlbarer Wohnraum dort Mangelware. In ländlichen Regionen
196 hingegen ist Wohnen, insbesondere im Eigentum, meist günstiger und die Umgebung grüner und
197 weniger schadstoffbelastet als in den Städten. Die Sicherung von gleichwertigen
198 Lebensverhältnissen wird nicht durch das gleiche Angebot in Großstädten und ländlichen
199 Räumen zu erreichen sein. Gleichwertig ist nicht identisch mit gleich. Wichtig sind aber
200 eine überall ausreichende Versorgung mit Gütern der Daseinsvorsorge sowie eine
201 flächendeckende Versorgung mit digitaler Infrastruktur auch und gerade in den ländlichen
202 Räumen. Es geht um eine Politik des Ausgleichs, der Beteiligung und Teilhabe vor Ort sowie
203 um die Wahlfreiheit des Wohnortes für alle Menschen. Dazu dient eine neue
39
204 Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Daseinsvorsorge“.
205 (204) Lebenswerte und sichere öffentliche Räume und Institutionen sind Voraussetzungen
206 dafür, dass die Gesellschaft zusammenhält. Damit Sicherheit und Gemeinsamkeit möglich
207 werden, garantiert der Staat gute Versorgung, Anbindung von ländlichen Regionen und Orte der
208 Begegnung. Zur Daseinsvorsorge gehören technische, soziale und kulturelle Infrastruktur
209 sowie ein umfassender Zugang zu Kultur, Künsten und kultureller Bildung, etwa
210 flächendeckende Breitbandanschlüsse und Mobilfunkversorgung, ein gut ausgebauter ÖPNV,
211 Frauenhäuser, Begegnungsräume für ältere Menschen, Ärzt*innen sowie Krankenhäuser, Kitas,
212 Jugendhäuser, Musikschulen und Bibliotheken, Sportplätze und Schwimmbäder in Stadt und Land.
213 Mit guter Baukultur, die Menschen an der Gestaltung ihrer gebauten Umwelt und ihrer
214 Kulturlandschaft beteiligt und teilhaben lässt, schaffen wir Identifikation mit unseren
215 Städten und Regionen. So helfen öffentliche Räume und Institutionen, Freiheit und
216 Selbstbestimmung zu ermöglichen, Chancengleichheit herzustellen und Aufstiegschancen zu
217 schaffen. Sie sind mehr als staatliche Daseinsvorsorge, sie sind ein Zusammenspiel von
218 demokratischer Staatlichkeit und bürgerschaftlichem Zusammenleben.
219 (205) Es braucht bessere regionale Wirtschaftskreisläufe. Sie sind nicht nur ökologischer,
220 sondern können auch Regionen mit Strukturproblemen helfen. Die regionale
221 Wirtschaftsförderung ist so auszurichten, dass regionale Kreisläufe unterstützt werden, vor
222 Ort eine gute Infrastruktur vorhanden ist und auch ländliche Regionen verlässlich vernetzt
223 und an die Zentren angebunden sind. Dafür braucht es starke regionale Zentren als
224 Ankerpunkte in den Regionen, die ein breites Angebot an öffentlichen und kulturellen
225 Dienstleistungen vorhalten. Bei der Ansiedelung von Bildungsinstitutionen, Landes- und
226 Bundesbehörden sollen dünn besiedelte Regionen besonders berücksichtigt werden.
227 (206) Das gute Zusammenleben aller Generationen und Gerechtigkeit zwischen ihnen wird in
228 einer alternden Gesellschaft zentraler. In ihr braucht es neue Formen des Zusammenlebens und
229 eine altersgerechte und inklusive Infrastruktur. Das wirkt Einsamkeit entgegen und stärkt
230 den sozialen Zusammenhalt. Im Zentrum sollte nicht nur die Versorgung älterer Menschen
231 stehen, sondern auch ihre Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben.
232 (207) Für viele Menschen ist die Familie das Fundament ihres Zusammenlebens und Glücks.
233 Deswegen stehen Familien zu Recht unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes. Familie ist
234 da, wo Menschen mit dem Ziel der Dauerhaftigkeit Verantwortung füreinander übernehmen, sich
235 umeinander kümmern und füreinander da sind. Familien verdienen Unterstützung. Egal ob mit
236 oder ohne Trauschein, getrennt oder alleinerziehend, mit Partner*in, gleich- oder
237 mehrgeschlechtlich, Patchwork oder in Mehr-Eltern-Konstellationen – alle Formen sollen
238 rechtlich und sozial abgesichert sein.
239 (208) Viele Eltern wollen sich Sorge- und Erwerbsarbeit gleichberechtigt aufteilen. Das wird
240 möglich durch gesetzliche Rahmenbedingungen, ein flächendeckendes, zeitlich flexibles und
241 qualitativ hochwertiges Betreuungs-, Bildung- und Beratungsangebot, einen Wandel der
242 Arbeitswelt sowie eine Reduzierung der Arbeitszeit.
243 (209) Kinder brauchen die Freiheit, sich zu bewegen, zu spielen und zu lernen, zu lachen und
244 zu weinen, um sich bestmöglich entwickeln und frei entfalten zu können. Sie haben eigene
245 Rechte. Diese gehören in den Mittelpunkt von Politik und Gesellschaft und sind im
40
246 Grundgesetz eigenständig zu garantieren. Kinder sind Expert*innen in eigener Sache und
247 sollten bei den sie betreffenden Angelegenheiten beteiligt werden. Ihr Interesse muss
248 Leitlinie in der Ausstattung von öffentlichen Räumen und Institutionen sein.
249 (210) Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf besonderen Schutz und auf
250 diskriminierungsfreie Förderung, die über bundesweite Qualitätskriterien für Kitas, Schulen,
251 Jugendämter und freie Träger zu garantieren sind. Kinderrechte gehören in alle Curricula für
252 Jura, Medizin, Erziehungswissenschaften und Polizei. Kinder müssen bei Entscheidungen
253 gehört, ihre Rechte und ihr Wille im Mittelpunkt stehen. Überall, wo mit Kindern umgegangen
254 wird, muss Basiswissen über Kinderrechte, insbesondere über Beteiligung, über den Schutz vor
255 Kindeswohlgefährdung und vor sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, zur
256 Voraussetzung werden. In Kinderschutzverfahren muss die nötige Qualifikation bei allen
257 Beteiligten gesetzlich vorgegeben und tatsächlich gewährleistet sein. Regionale Netzwerke
258 gegen jegliche, insbesondere auch sexualisierte Gewalt gegen Kinder müssen flächendeckend
259 aufgebaut und gesichert werden. Sie ermöglichen ein stimmiges Miteinander von Jugendämtern,
260 unabhängigen Fachberatungsstellen und anderen Bereichen der sozialen Arbeit, der Bildung und
261 der Erziehung. Dazu gehören Standards für Prävention, Personalausstattung, Fortbildungen
262 sowie für Beratung und Therapie, die selbstverständlich eine gute Finanzierung voraussetzen.
263 Wohnen
264
265 (211) Wohnen ist nicht nur existentiell, sondern die Voraussetzung für Freiheit, Würde und
266 Selbstbestimmung und deshalb Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Das Recht auf Wohnen
267 soll im Grundgesetz verankert werden. Kein Mensch soll ohne Obdach und eine dauerhafte
268 würdevolle Unterbringung sein. Eine Diskriminierung bei der Wohnungssuche aufgrund von
269 Kriterien wie des Namens, der Herkunft, der sexuellen Identität, einer Behinderung, des
270 Familien- oder Bildungstandes oder trotz ausreichendem Einkommen darf es nicht geben. Auch
271 kleine Selbständige sowie soziale und kulturelle Angebote und deren Orte brauchen ein
272 soziales Gewerbemietrecht, damit sie durch steigende Mieten nicht aus ihren Vierteln
273 verdrängt werden. Es braucht ein starkes und soziales Mietrecht, das den unterschiedlichen
274 Wohnungsmärkten gerecht wird, und bessere Instrumente für eine gesetzliche Begrenzung der
275 Miethöhe und eine gesetzlich-verankerte Mieter*innen-Mitbestimmung. Es braucht Maßnahmen
276 gegen Spekulation mit Wohnraum und eine entschlossene Bekämpfung der Geldwäsche mit
277 Immobilien sowie der zunehmenden Vermögenskonzentration über den Immobilienmarkt
278 (212) Wohnen ist auch eine soziale Frage. Um das Recht auf Wohnen zu verwirklichen, ist ein
279 hoher Bestand an öffentlichem oder gemeinnützigem, langfristig sozial gebundenem Wohnraum
280 nötig, der möglichst dauerhaft in der Bindung bleiben sollte. Wohnraum und Boden dürfen
281 keine Spekulationsobjekte sein. Das Ziel ist eine gemeinwohlorientierte Wohnungswirtschaft,
282 eine "Neue Wohngemeinnützigkeit". Projekte, Initiativen und Gesellschaften des
283 gemeinschaftlichen, genossenschaftlichen, alternativen oder generationsübergreifenden Wohnens
284 sollen unterstützt werden. Dort, wo viele Menschen zuziehen, muss auch gebaut werden. Es
285 braucht nachhaltiges und flächensparendes Bauen, eine gute Baukultur und eine behutsame
286 Nachverdichtung und Stadtentwicklung unter Wahrung urbaner wie ländlicher Grün- und
287 Freiflächen.
288 (213)Lebendige, durchmischte, offene und barrierefreie Städte und Quartiere der kurzen Wege
41
289 sind das Leitbild: Dort leben junge und alte sowie Menschen verschiedener Herkunft gern in
290 ihren Wohnvierteln, haben es nicht weit zur Arbeit und zum nächsten Sportplatz. Der
291 demographische Wandel bringt neue Formen des Zusammenlebens. Ein ausreichender Bestand an
292 barrierefreien und rollstuhlgerechten Wohnungen und Möglichkeiten für ältere Menschen, ein
293 aktives Leben zu führen, sind entscheidend.
294
295 (214) Der ländliche Raum der Zukunft ist geprägt durch eine naturstarke Umgebung, durch
296 ökologische Landwirtschaft und eine leistungsstarke mittelständische Wirtschaftsstruktur. Er
297 braucht einen guten Anschluss an den ÖPNV, ein bedarfsgerechtes Angebot an Kinderbetreuung,
298 Schulen, medizinischer Versorgung und Pflegedienstleistungen sowie eine gute digitale
299 Infrastruktur, die Homeoffice und Coworking-Spaces ermöglicht. Das Land braucht Dörfer mit
300 einem aktiven Sozialleben, lebendigen Ortskernen und autofreien Spielräumen.
301 (215) Sport verbindet alle Menschen unabhängig ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer
302 sozialen und finanziellen Möglichkeiten, ihrer sexuellen Identität und sexuellen
303 Orientierung ob mit Behinderung oder ohne. Im Sport sind alle Menschen gleich. In
304 Deutschland treiben viele Millionen Menschen Sport im Verein oder in freien Gruppen. Im
305 Sport werden gesellschaftliche Werte einer offenen und solidarischen Gesellschaft
306 vermittelt. Der Sport ermöglicht aktives Naturerleben, er dient der Gesundhaltung und
307 Prävention sowie dem sozialen Wohlbefinden des Menschen. Der Sportverein ist einer der
308 wichtigsten Träger der außerschulischen Jugendarbeit und vermittelt sportliche Werte wie
309 Fairness, Teamgeist und Verantwortung. Diese vielfältigen Strukturen im Freizeit-,
310 Gesundheits-, Inklusions- und Leistungssport zu stärken bedeutet das friedliche
311 Zusammenleben zu erhalten. Auf internationaler Ebene leistet der Sport einen wichtigen
312 Beitrag zum Kulturaustausch und zu gegenseitiger Begegnung. Sport findet nicht im
313 politischen Vakuum statt. Das bedeutet Verantwortung für den Zusammenhalt in unserer
314 Gesellschaft, für den Schutz von Menschenrechten und der Natur, aber genauso als
315 wirtschaftlicher Akteur und im Kampf gegen Doping. Gleichzeitig gilt es, im Sport allen
316 Geschlechteridentitäten auf allen Ebenen die Teilhabe zu ermöglichen. Auch sind einengende
317 Geschlechterbilder beim Zugang zu Sportarten abzubauen.
318 (216) Privat übernehmen viele Menschen ehrenamtlich Verantwortung für andere, sei es in
319 Familie und Nachbarschaft oder in Vereinen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und
320 Initiativen. Das Ehrenamt hat eine konstitutive Rolle in unserer Demokratie und für unser
321 Zusammenleben. Dafür braucht es Zeit, Anerkennung, Weiterbildung und Förderung, die wir als
322 Gesellschaft bereitstellen müssen. Gesellschaftliches Engagement darf nicht das Privileg der
323 ökonomisch Abgesicherten bleiben.
324 (217) Viele Menschen sind motiviert, freiwilligen Einsatz für die Gesellschaft zu bringen.
325 Die bestehenden Freiwilligendienste können zu einem neuen gesellschaftlichen
326 Generationenprojekt werden, wenn sie ausgebaut und auch für Menschen im Ruhestand geöffnet
327 werden, die Erfahrung und Können weiter einbringen wollen. Ein solcher
328 „Zivilgesellschaftsdienst“ soll Rentner*innen wie allen jungen Menschen in Europa, die ihn
329 ausüben wollen, unabhängig vom eigenen Geldbeutel offenstehen und auch international möglich
330 sein.
331 Kultur und die Künste
42
332 (218) Kunst ist frei. Kunst dient niemandem. Sie lässt sich nicht auf ihren materiellen Wert
333 reduzieren. Kunst ist vielfältig , deutungsoffen und nie homogen, sie ist dynamisch,
334 hybrid und niemals statisch. Kultur und die Künste lassen aus dem Zusammenspiel
335 unterschiedlichster Einflüsse und Zusammenhänge Neues entstehen und sind so Motor
336 gesellschaftlicher Veränderung. Wir schützen die Freiheit der Künste und wenden uns dagegen,
337 Kultur und die Künste und die Künste vereinheitlichen zu wollen oder alleinige
338 Deutungshoheit über sie zu beanspruchen.
339 (219) Freie Kultur und Kunst sind eine Grundlage für Demokratie und friedliches
340 Zusammenleben. Sie gehören zur Daseinsvorsorge und sind Ausdruck und Anlass individueller
341 und gesellschaftlicher Reflexion, persönlichen und kollektiven Erkenntnisgewinns sowie
342 persönlicher und kollektiver Entwicklung. Kulturelle Vielfalt sowie Transkulturalität, also
343 die gegenseitige Durchdringung von Kulturen, zu fördern und zu schützen ist eine wichtige
344 Aufgabe in der offenen Gesellschaft. Der Zugang zu und die Teilhabe an Kultur und den
345 Künsten muss für alle gleich gewährleistet sein. Das gilt für kulturelle Bildung,
346 Kulturinstitutionen und Freiräume gleichermaßen. Es gilt für das Erleben ebenso wie für das
347 Schaffen von Kunst. Kultur ist ein relevanter Wirtschaftsfaktor, aber Kultur zeichnet sich
348 auch dadurch aus, dass sie sich oftmals der Wirtschaftlichkeit entzieht und
349 gesellschaftlichen Gegenentwürfen Raum geben kann. Kulturorte sind für die Gesellschaft
350 unverzichtbar. Kultur und Sprache nationaler Minderheiten und autochthoner Volksgruppen
351 sowie anerkannte Regionalsprachen sind zu schützen und zu fördern. Kultur ist umso
352 nachhaltiger, wenn sie ihrerseits mit Ressourcen sorgsam umgeht.
353
354 (220) Kulturpolitik muss vernetzt gedacht werden, denn Kulturräume verlaufen nicht
355 entlang staatlicher Grenzen, sie sind gleichermaßen lokal, regional, national und
356 international. Nur eine prosperierende, vielfältige und offene Kulturlandschaft schafft
357 Zusammenhalt und lässt Neues entstehen. Freiräume für kulturelle Aktivitäten müssen erhalten
358 oder geschaffen werden, damit Kultur und die Künste ihren entscheidenden Beitrag zu einer
359 hohen Lebensqualität sowie zu Austausch und Zusammenleben leisten können.
360 (221) Kultur und die Künste brauchen öffentliche Förderung auf Grundlage transparenter
361 Kriterien, Kulturschaffende eine verlässliche und angemessene soziale Absicherung. Die freie
362 Szene braucht professionelle Rahmenbedingungen, unabhängig von privater und
363 unternehmerischer Unterstützung. Dazu gehören auch transparente Strukturen, faire
364 Arbeitsbedingungen und eine faire Bezahlung sowie die Gleichstellung der Geschlechter in den
365 öffentlich geförderten Kultureinrichtungen sowie eine angemessene Vergütung für
366 Künstler*innen und Solo-Selbständige.
367 (222) Das Bewusstsein für die Singularität der Verbrechen des deutschen Staates während der
368 nationalsozialistischen Diktatur als universelle Mahnung wachzuhalten und die daraus
369 folgende historische Verantwortung wahrzunehmen ist vordringliche Aufgabe deutscher
370 Erinnerungskultur. Das Gedenken an den Holocaust ist grundlegend für die Demokratie in
371 Deutschland. Damit betraute öffentliche und staatliche Einrichtungen müssen angemessen
372 ausgestattet werden und ihren Bildungsauftrag zeitgemäß, wirksam und kohärent ausrichten. Es
373 kann keinen Schlussstrich geben. Dazu gehört, die Aufarbeitung der NS-Verbrechen
374 fortzuführen, Raubkunst an die Eigentümer*innen und ihre Erb*innen zurückzugeben, sowie
43
375 weiteren Verpflichtungen gegenüber Ländern, die unter der deutschen Besatzung gelitten
376 haben, nachzukommen.
377 (223) Das Erbe der DDR-Bürgerrechtsbewegung verpflichtet uns zur lebendigen Erinnerung an
378 die SED-Diktatur und ihrer weiteren Aufarbeitung. Erlittenes und begangenes Unrecht dürfen
379 nicht in Vergessenheit geraten. Gleiches gilt für die Geschichte der DDR, der deutschen und
380 europäischen Teilung sowie die friedliche Revolution von 1989. Erinnerungsstätten und
381 Opferberatungen benötigen daher eine auskömmliche Finanzierung. Der Zugang zu den Stasi382 Akten muss weiterhin für Betroffene, für Publizistik und Forschung gewährleistet sein.
383 (224) Die Erinnerungskultur einer vielfältigen Einwanderungsgesellschaft zeigt sich offen
384 für die vielstimmigen Geschichten und Erzählungen sowie die unterschiedlichen historischen
385 Erfahrungen der Menschen, die hier leben. Auch die kritische Aufarbeitung der kolonialen
386 Vergangenheit und der damit verbundenen Verbrechen muss selbstverständlicher Teil unserer
387 Bildungs- und Erinnerungskultur sein. Das ist Voraussetzung für eine Gesellschaft, in der
388 alle Menschen frei von Rassismus leben können.
389 (225) Deutschlands Kolonialvergangenheit ist auch im Kulturbereich viel zu wenig
390 aufgearbeitet. Es braucht eine umfängliche Forschung über die Herkunft von Sammlungsobjekten
391 und immateriellen Kulturgütern aus kolonialen Kontexten, ihre Rückgabe an die
392 Herkunftsgesellschaften sowie die Dekolonisierung von Kultureinrichtungen und des
393 öffentlichen Raums. Dies kann nur in enger Zusammenarbeit mit den Nachkommen der ehemals
394 Kolonisierten international wie hierzulande geschehen.
395 (226) Der europäische und internationale Austausch im Bereich Kunst, Theater, Musik,
396 Literatur, Film und anderer Künste stärkt die Bindung zwischen den Menschen rund um den
397 Globus. Die Intensivierung der europäischen und internationalen Kulturbeziehungen ist ein
398 Beitrag zur Öffnung, zu Frieden und zum Schutz von Menschenrechten. Die Auswärtige Kultur399 und Bildungspolitik übernimmt dabei eine wichtige Rolle.
400 Gesundheit und Pflege
401 (227) Oberste Aufgabe jeder Gesundheitspolitik ist es, die Würde und Freiheit des Menschen
402 auch im Krankheits- und Pflegefall zu wahren und gleichzeitig Gesundheit zu fördern und
403 Gesundheitsrisiken vorzubeugen. Dabei ist Gesundheit nicht nur die Abwesenheit von
404 Krankheit, sondern umfasst das psychische, soziale und körperliche Wohlbefinden.
405 Gesundheitsversorgung und Pflege sind zentrale Pfeiler der Daseinsvorsorge. Es ist
406 öffentliche Aufgabe, jedem Menschen unabhängig von Alter, Einkommen, Geschlecht, sexueller
407 Orientierung, geschlechtlicher Identität, Herkunft, sozialer Lage oder Behinderung sowie vom
408 Wohnort und Aufenthaltsstatus Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Versorgung, die sich
409 an seinen Bedürfnissen orientiert, zu garantieren. Die Versorgung muss dem Stand der
410 wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechen, den medizinischen Fortschritt berücksichtigen
411 und auch den Bedarfen von besonders verletzlichen Personengruppen gerecht werden.
412 (228) Gute Gesundheitspolitik setzt schon bei der Vermeidung von Erkrankungen und
413 Pflegebedürftigkeit an und gestaltet gesundheitsförderliche Lebenswelten. Sie nimmt auch das
414 psychische und soziale Wohlbefinden in den Blick. Prekäre Lebensverhältnisse machen in
415 vielen Fällen krank. Menschen, die in Armut leben, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit zu
44
416 erkranken und oft einen schlechteren Zugang zum Gesundheitssystem. Bewegungsmöglichkeiten,
417 angemessener Wohnraum, gesunde Ernährung und saubere Luft müssen allen zur Verfügung stehen,
418 um gesund zu bleiben. Das heißt auch: Klimaschutz ist Gesundheitsschutz. Prävention,
419 Gesundheitsförderung und gesundheitliche Versorgungsind Querschnittsaufgaben, die in allen
420 Politikbereichen verfolgt werden müssen. Insbesondere eine gute Sozialpolitik ist Teil einer
421 umfassenden Gesundheitsvorsorge.
422 (229) Solidarische Kooperation - international und europäisch - bei Gesundheitsforschung und
423 beim Aufbau guter Gesundheitssysteme ist eine gemeinsame Aufgabe der Weltgemeinschaft.
424 Globale Gesundheitspolitik und -forschung müssen sich an gesundheitlichen Bedürfnissen aller
425 Menschen weltweit und nicht an hohen Renditeerwartungen orientieren und ausreichend
426 finanziert werden. Die Weltgesundheitsorganisation soll gestärkt werden. Es braucht weltweit
427 Versorgungssicherheit mit zentralen Arzneimitteln und Materialien. Sie müssen dezentraler
428 und auch in Europa produziert und vorgehalten werden, zusätzliche Produktionskapazitäten
429 müssen im Fall einer Krise schnell aktiviert werden können.
430 (230) Gesundheitsversorgung ist öffentliche Aufgabe. Egal ob bei der freiberuflichen
431 Landärztin, dem Medizintechnikunternehmen oder in der staatlichen Uniklinik – sie muss dem
432 Menschen und seiner Gesundheit zugutekommen. Die Planung und Finanzierung des
433 Gesundheitswesens muss am Bedarf der Patient*innen ausgerichtet werden. Entscheidend ist,
434 was medizinisch und menschlich geboten ist - und nicht die möglichst billige, schnelle oder
435 profitable Behandlung. Insbesondere im Krankenhausbereich soll die Gemeinwohlorientierung
436 gestärkt, die Benachteiligung öffentlicher Träger gegenüber privaten beendet und der Trend
437 hin zur Privatisierung umgekehrt werden. Klare politische Vorgaben zur Personalbemessung,
438 Behandlungs- und Versorgungsqualität sollen sicherstellen, dass alle Träger gleichermaßen
439 zum Nutzen der Patient*innen handeln. Dadurch werden Gewinnausschüttungen von Kliniken
440 beschränkt, damit öffentliches und beitragsfinanziertes Geld im System bleibt.
441 (231) Nur ein gut finanziertes Gesundheitssystem kann die Würde der Patient*innen und die
442 Rechte der Beschäftigten gleichermaßen schützen. Falsche politische Weichenstellungen und
443 der daraus folgende ökonomische Druck haben zu Fehlanreizen zulasten des Patient*innen444 Wohls, Kosteneinsparungen zulasten des Personals und einer falschen Verteilung von Geldern
445 geführt. Die Krankenhausfinanzierung muss neu gedacht und auf wohnortunabhängige
446 Versorgungssicherheit und -qualität, auf eine gute Bezahlung für Beschäftigte, auf Vorsorge
447 und auf Krisenfestigkeit ausgerichtet werden. Kliniken sollen nicht nur nach erbrachter
448 Leistung, sondern nach ihrem gesellschaftlichen Auftrag finanziert werden. Dafür braucht es
449 ein neues Finanzierungssystem für die Kliniken, das eine relevante strukturelle Finanzierung
450 beinhaltet. Dazu gehört auch die Investitionsfinanzierung durch Bund und Länder gemeinsam zu
451 verbessern. Die Versorgungsplanung im Gesundheitssystem soll gestärkt werden. Stationäre und
452 ambulante Versorgung sollen zusammen gedacht, geplant, finanziert und durchgeführt werden.
453 (232) Gleichwertige Lebensverhältnisse bedeuten eine gute Gesundheitsversorgung in der Stadt
454 und auf dem Land. Jeder Mensch muss Zugang zu medizinischer und psychotherapeutischer Hilfe
455 haben, ohne lange Wartezeiten, egal wo er oder sie lebt. Dafür müssen die Grenzen zwischen
456 ambulanter und stationärer Versorgung überwunden werden. Durch ein Stufenmodell von der
457 gesundheitlichen Grundversorgung bis hin zu Spezialangeboten kann die Versorgung im
458 ländlichen und städtischen Raum gestärkt und zeitgleich eine gute Versorgungsqualität
45
459 sichergestellt werden. Vor Ort werden verschiedene Angebote der Gesundheitsversorgung
460 bestmöglich miteinander verknüpft. Ambulante und stationäre Versorgung werden dabei
461 gemeinsam mit niedrigschwelligen Angeboten der Gesundheitsberatung geplant. Prävention und
462 Gesundheitsförderung werden in allen kommunalen Handlungsfeldern fest verankert.
463 (233) Eine bessere Vernetzung, Koordination und Zusammenarbeit über alle Berufsgruppen
464 hinweg ist notwendig, um den Bedarfen der Patient*innen in einer älter werdenden
465 Gesellschaft besser gerecht zu werden. Eine gut abgestimmte Versorgung muss zur Regel
466 werden. Das bedeutet, dass Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen, Pflegekräfte und andere
467 gesundheitsnahe Berufe sowie ein ausgebauter und gut ausgestatteter öffentlicher
468 Gesundheitsdienst Hand in Hand und auf Augenhöhe zusammenarbeiten, beispielsweise in
469 gemeinwohlorientierten Gesundheitszentren. Dabei helfen eine umfassende Versorgungsplanung,
470 Gesundheitsberichterstattung, eine Stärkung der Versorgungsforschung und die Aufwertung und
471 Ausweitung der Kompetenzen in Gesundheits- und Pflegefachberufen. Dabei sollen Pflegekräfte
472 mehr Steuerungsverantwortung für die Gestaltung der Pflege übernehmen können.
473 Heilmittelerbringer*innen und gesundheitsnahe Berufe sind ein essenzieller Teil unseres
474 Gesundheitssystems und müssen finanziell besser abgesichert werden. Die Stärkung der
475 professionellen Pflege und der hausärztlichen Versorgung ist Voraussetzung für ein gutes
476 Versorgungsnetz in der Fläche.
477 (234) Gute Versorgung durch Hebammen - ob ambulant oder in Geburtshäusern und Kreißsälen -
478 muss sowohl in ländlichen Regionen als auch in Städten gesichert sein. Wir brauchen einen
479 Kulturwandel in der Geburtshilfe, weg von Personalmangel und Kostendruck, um die Bedürfnisse
480 von Mutter und Kind in den Mittelpunkt zu stellen. Die reproduktive Selbstbestimmung muss
481 gewährleistet sein. Das umfasst neben dem kostenfreien Zugang zu Verhütungsmitteln und der
482 Verhinderung von Gewalt unter der Geburt auch die Sicherstellung von ärztlich vorgenommenen
483 Schwangerschaftsabbrüchen und professioneller Beratungen zu diesen, die sich an den
484 Bedürfnissen der Frauen orientieren. Das sind wichtige Teile der Gesundheitsversorgung und
485 der Selbstbestimmung von Frauen. Die Forschung zu geschlechtsspezifischer Medizin und Pflege
486 sowie Frauengesundheit muss gestärkt und in die medizinische und pflegerische Praxis
487 umgesetzt werden.
488 (235) Gute Gesundheit und Pflege gibt es nur unter guten Arbeitsbedingungen in allen Pflege489 und Gesundheitsberufen und einer an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichteten Pflege- und
490 Gesundheitsinfrastruktur. Ob Pfleger*innen in der Altenpflege oder anderswo, Hebammen oder
491 Physiotherapeut*innen, sie sind das Rückgrat unserer Gesellschaft. In diesem Arbeitsbereich
492 droht permanent die Gefahr von Überlastung und Überarbeitung. Sich um andere zu kümmern darf
493 nicht krank machen. Es braucht mehr Personal, mehr Lohn und mehr Zeit - und zwar für
494 Patient*innen statt für Bürokratie. Um überhaupt mehr Personal zu gewinnen, müssen die
495 Gesundheits- und Pflegeberufe Perspektiven bieten, sich die Arbeit mit der Familie
496 vereinbaren lassen und Fortbildung, Aufstiegschancen und Sicherheit bieten. Der Staat trägt
497 hier auch aufgrund des im Grundgesetz festgeschriebenen Sozialstaatsgebots eine besondere
498 Verantwortung.
499 (236) Digitalisierung und Automatisierung können helfen, Arbeitsabläufe im Gesundheitswesen
500 zu vereinfachen und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Robotik und digitale Anwendungen
501 sollten dort eingesetzt werden, wo sie die Versorgung der Patient*innen verbessern und die
46
502 Arbeit erleichtern. Sie können und sollen menschliche Zuwendung nicht ersetzen.
503 (237) Die Chancen der Digitalisierung gilt es sowohl bei der Organisierung der
504 Gesundheitsversorgung und im Pflegebereich als auch bei der Verwaltung von Gesundheitsdaten
505 und der individuellen Prävention zu nutzen. So wird auch in Zeiten des demographischen
506 Wandels die Erhaltung eines zukunftsfähigen Gesundheitssystems unterstützt. Aufgrund der
507 Sensibilität von Gesundheitsdaten kommt dem Datenschutz dabei eine herausragende Rolle zu.
508 Gerade deshalb sollte die Infrastruktur öffentlich verantwortet und reguliert werden.
509 Gesundheitsdaten inklusive der Patient*innen-Daten können nur unter Wahrung höchster
510 Datenschutzstandards digital erfasst und anonymisiert der Forschung zur Verfügung gestellt
511 werden. Eine Weitergabe erfolgt nicht gegen den Willen von Patient*innen. Ihre eigenen
512 Gesundheitsdaten müssen Patient*innen möglichst barrierefrei und sicher zugänglich sein. Die
513 ärztliche Schweigepflicht und das Patient*innengeheimnis müssen auch für digitalisierte
514 Gesundheitsdaten jederzeit gewahrt bleiben.
515 (238) Solidarisch finanziert können die Herausforderungen der älter werdenden Gesellschaft
516 und die Kosten des medizinischen Fortschritts am besten bewältigt werden. Indem alle
517 Bevölkerungsgruppen in Abhängigkeit ihres Einkommens und unter Einbeziehung aller
518 Einkommensarten in die Finanzierung über eine Bürgerversicherung einbezogen werden, können
519 die Belastungen fair und für alle tragfähig ausgestaltet werden. Gesundheit und Pflege muss
520 allen Menschen gleich zur Verfügung stehen. Beim Zugang darf es keinen Unterschied nach
521 Einkommen oder Versicherungsstatus geben. Im Falle von Pflegebedürftigkeit muss durch eine
522 Reform der Pflegeversicherung sichergestellt werden, dass alle Menschen die Leistungen
523 erhalten, die sie benötigen und Pflegebedürftigkeit kein Armutsrisiko mehr ist.
524 (239) Leistungen, die medizinisch sinnvoll und gerechtfertigt sind und deren Wirksamkeit
525 wissenschaftlich erwiesen ist, müssen von der Solidargemeinschaft übernommen werden. Bei
526 Medikamenten und Impfstoffen, die etwa der Bekämpfung von Pandemien dienen und durch Patente
527 geschützt sind, sind kostengünstige Lizenzen notwendig, um Menschen weltweit versorgen zu
528 können. Diese Lizenzen müssen im Zweifel verpflichtend durchgesetzt werden.
529 (240) In der Drogenpolitik braucht es einen Paradigmenwechsel. Statt um eine
530 Kriminalisierung von Abhängigkeitserkrankten und Konsument*innen geht es um Prävention,
531 Selbstbestimmung, Schadensminimierung, Entkriminalisierung und passgenaue Beratungs- und
532 Hilfsangebote. Cannabis sollte zeitnah legalisiert werden. Eine kontrollierte Abgabe von
533 psychoaktiven Substanzen und eine an den gesundheitlichen Risiken orientierte Regulierung
534 sind der richtige Weg für wirksamen Jugend- und Gesundheitsschutz, zur Reduktion schädlichen
535 Gebrauchs von Suchtmitteln, zur Vermeidung von Drogentoten und um dazu beizutragen
536 kriminellen Strukturen und Drogenkriegen die Grundlage zu entziehen. Um einen wirksamen
537 Jugendschutz zu gewährleisten, setzen wir auf geeignete Präventionsmaßnahmen, Aufklärung und
538 einen faktenbasierten Umgang. Für Drogen soll nicht geworben werden. Der Nichtraucherschutz
539 muss gestärkt werden.
540 (241) Menschen sind immer Menschen, niemals „Fälle“, egal ob gesund, krank, pflegebedürftig
541 oder eingeschränkt. Patient*innen sind Akteur*innen mit starken Rechten. Sie sollen dabei
542 unterstützt werden ihre Rechte auch durchzusetzen, dafür müssen sie auch bei relevanten
543 Entscheidungen im Gesundheitswesen mitbestimmen und in entsprechende Gremien eingebunden
47
544 sein. Wahlfreiheit im Gesundheitswesen bedeutet, dass Versicherte die Möglichkeit haben,
545 sich im Krankheitsfall zwischen unterschiedlichen qualitätsgesicherten Angeboten und
546 Therapien zu entscheiden. Dafür braucht es Therapievielfalt und das Selbstbestimmungsrecht
547 der Patient*innen. Viele Menschen nutzen Komplementärmedizin, die somit eine relevante Rolle
548 in der heutigen Gesundheitsversorgung spielt. Die Forschung zur Wirksamkeit zum Beispiel von
549 Naturheilverfahren soll unterstützt werden. Die Förderung der Gesundheitskompetenz, die
550 Befähigung der Patient*innen und unabhängige Gesundheitsberatung sollen zu einem festen
551 Bestandteil unseres Gesundheitssystems werden.
552 (242) Für queere Menschen muss das Gesundheitswesen diskriminierungsfrei zugänglich
553 sein. Die Gesundheitsversorgung für trans* und intergeschlechtliche Menschen muss
554 abgesichert und verbessert werden. Der Anspruch auf medizinische körperangleichende
555 Maßnahmen soll gesetzlich verankert und die Kostentragung durch das Gesundheitssystem
556 gewährleistet werden. Der Zugang zur Reproduktionsmedizin muss diskriminierungsfrei
557 erfolgen. Medizinisch nicht notwendige genitalverändernder Operationen bei
558 intergeschlechtlichen Menschen vor deren Einwilligungsfähigkeit und sogenannte
559 "Konversionstheraphien" gehören wirksam verboten. Um HIV positive Menschen zu unterstützen,
560 müssen der Zugang zu Medikamenten verbessert, medizinischer Fortschritt genutzt und Stigmata
561 abgebaut werden.
562 (243) Auch im Alter oder bei Pflegebedürftigkeit haben Menschen das Recht auf ein
563 selbstbestimmtes Leben. Die Sicherung einer Pflege, die Selbstbestimmung und Teilhabe
564 ermöglicht und die Würde Pflegebedürftiger schützt, ist gerade aufgrund des demografischen
565 Wandels eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe. In der Einwanderungsgesellschaft muss
566 Pflege außerdem diversitätssensibel gestaltet sein.
567
568 (244) Menschen, die pflegebedürftig werden, wollen zumeist in ihrem gewohnten Umfeld
569 bleiben. Eine dezentrale Pflegestruktur, bei der die Wünsche, die Selbstbestimmung und
570 Selbstständigkeit der Betroffenen im Mittelpunkt stehen, ist dafür der beste Weg. Deshalb
571 sollen Kommunen mehr Möglichkeiten bekommen, das Angebot an Pflege und Betreuung vor Ort zu
572 gestalten, eine bedarfsgerechte Pflegeinfrastruktur zu schaffen und dabei insbesondere auf
573 einen umfassenden Ausbau von ambulanten Wohn- und Pflegeformen statt weiteren
574 Großeinrichtungen zu achten. Gute stationäre Pflege gibt es nur, wenn in Pflegeheimen die
575 Bedürfnisse und das Wohl der Bewohner*innen im Mittelpunkt stehen. Dass zu Gunsten von hohen
576 Renditen an der Qualität oder an den Beschäftigten gespart wird, muss unterbunden werden.
577
578 (245) Ziel sind lebenswerte Quartiere für alle Generationen, in denen professionelle
579 Pflegeangebote und nachbarschaftliche Initiativen ineinandergreifen und diese ältere und
580 pflegebedürftige Menschen sowie pflegende Angehörige unterstützen. Pflegende Angehörige
581 verdienen generell mehr Anerkennung, sie sind als tragende Säule der häuslichen Pflege auf
582 Augenhöhe in das Versorgungsnetz einzubinden und zu unterstützen.
583 (246) Zu einem Leben in Würde gehört auch ein Sterben in Würde. Eine bedarfsgerechte
584 Palliativversorgung in Stadt und Land ist unerlässlich. Auch damit Menschen die Möglichkeit
585 haben, zu Hause im Kreis der Angehörigen zu sterben. Zusätzlich braucht es genügend
586 Hospizplätze, die auch auf die Bedürfnisse der Sterbenden eingestellt sind. Das Recht auf
48
587 selbstbestimmtes Leben schließt - nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts -
588 selbstbestimmtes Sterben frei von Druck ein.
49
Antragstext
1 Kapitel 5: Demokratie stärken
2 Rechte und Zugänge
3 (247) Demokratie ermöglicht ein Leben in Würde und Freiheit. Vielfältige Demokratie
4 bedeutet, dass wir als Gesellschaft unsere Lebensumstände mit gleichen
5 Beteiligungsmöglichkeiten gemeinsam gestalten. Souverän eines demokratischen Rechtsstaates
6 sind die Staatsbürger*innen, der Verantwortungsbereich der Demokratie ist die gesamte
7 Bevölkerung. Demokratie ist nicht auf einen formalen Prozess reduzierbar, sondern
8 Leitprinzip für ein Miteinander in gleicher politischer Freiheit.
9 (248) Freiheitsrechte und Minderheitenschutz werden im demokratischen Rechtsstaat durch eine
10 unabhängige Justiz und die Bindung der Exekutive an Recht und Gesetz garantiert. Der freie
11 und gleiche Zugang zum Recht muss daher für alle gewährleistet sein.
12 (249) Staatliche Daseinsvorsorge, die Beseitigung von Armut und Diskriminierung, der Zugang
13 zu Bildung und öffentlicher Meinungs- und Willensbildung sowie ein ausreichendes Maß an Zeit
14 für politische Beteiligung gehören zu einer freiheitlichen und vielfältigen Demokratie.
15 (250) Die Folgen demokratischer Entscheidungen reichen oft über den regionalen oder
16 nationalen Rahmen hinaus. Daher müssen die europäischen und globalen Auswirkungen in
17 Entscheidungsprozessen immer berücksichtigt werden. Globalisierung erfordert transnationale
18 demokratische Handlungsfähigkeit. Nur mit fairem Interessensausgleich und demokratischer
19 globaler Kooperation können wir richtige und wirksame Antworten auf globale
20 Herausforderungen geben. Um demokratische Handlungsfähigkeit in einer globalisierten Welt zu
21 stärken, soll sich die EU perspektivisch weiterentwickeln zu einer Föderalen Europäischen
22 Republik, die Europa nach innen eint, aber gleichzeitig nach außen ein integrativer Teil der
23 Weltgemeinschaft ist.
24 (251) Demokratie ohne Meinungsfreiheit ist undenkbar. In der Demokratie kann jeder Mensch
25 seine Meinung frei äußern und jede*r muss Widerspruch zur eigenen Meinung aushalten. Aber
26 Hass und Hetze zerstören den freien Austausch von Meinungen. Jeder Mensch hat das Recht auf
27 eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten. Das bewusste Verbreiten von
28 Falschinformationen ist kein Grundrecht.
29 (252) Demokratie ist angewiesen auf Demokrat*innen. Die Freiräume einer starken und
30 lebendigen Zivilgesellschaft sind zu schützen, auch kritischen Stimmen muss politisches
31 Gehör gelten. Demokratie beginnt vor Ort. Ohne bürgerschaftliches Engagement und vielfältige
32 Ehrenämter würde unser Gemeinwesen nicht funktionieren. Demokratie lebt von Menschen, die
33 sich für andere engagieren und unser Gemeinwesen mitgestalten – in Bürgerinitiativen und
Demokratie stärken
GSP.D-01NEU: Kapitel 5: Demokratie stärken
Antragsteller*in: Bundesdelegiertenkonferenz
50
34 Parteien, in Vereinen, Feuerwehren und Kirchen und anderen Religions- und
35 Weltanschauungsgemeinschaften, in NGOs, Gewerkschaften und Unternehmen, bei Demonstrationen,
36 im Sportverein und in Bewegungen und in anderen Bereichen der Zivilgesellschaft. Solches
37 Engagement ist der Kitt, der unsere pluralistische Gesellschaft zusammenhält. Deshalb muss
38 Gemeinnützigkeit umfassend rechtlich abgesichert werden – auch dahingehend, dass sich
39 gemeinnützige Organisationen politisch einbringen und engagieren können. Eine öffentliche
40 Infrastruktur für Ehrenamt und Engagement muss sicherstellen, dass bürokratische
41 Anforderungen und mangelnde Ressourcen Engagierte nicht davon abhalten, sich einzubringen
42 und die Liste gemeinnütziger Tätigkeiten erweitert wird.
43 (253) Friedlicher zivilgesellschaftlicher Protest ist eine wichtige Ressource in einer
44 lebendigen Demokratie, dafür kann auch gewaltfreier ziviler Ungehorsam ein legitimes Mittel
45 sein.
46 (254) Gute politische Bildung, auch jenseits der Schule, ist Grundlage für eine
47 funktionierende Demokratie. Die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, politische Bildung
48 und partizipative Bildungsinstitutionen zur Stärkung demokratischer Kompetenzen sind
49 Grundlage und wesentlich für den Fortbestand der demokratischen Gesellschaft. Auch Kinder und
50 Jugendliche können demokratische Prozesse und Grundrechte hier erlernen.
51 (255) Die beste Verteidigung der parlamentarischen Demokratie ist ihre Weiterentwicklung. Es
52 gilt, der Verknöcherung demokratischer Institutionen und Verfahren entgegenzuwirken, um die
53 Demokratie lebendig zu halten. Einem Vertrauensverlust und der Dominanz einseitiger
54 Interessenslagen in demokratischen Prozessen kann durch Offenheit für neue
55 Beteiligungsmöglichkeiten begegnet werden.
56 (256) Um sich demokratisch engagieren und sich souverän und selbstbestimmt entscheiden zu
57 können, braucht es die Möglichkeit zur unabhängigen Information. Transparenzgesetze für den
58 Zugang zu öffentlichen Informationen beugen Korruption vor und sorgen für mehr Möglichkeiten
59 der demokratischen Kontrolle. Digitale Plattformen, die nicht von kommerziellen Interessen
60 gesteuert sind, unabhängiger Journalismus in freien Medien entlang des Pressekodex, ein
61 unabhängiger öffentlich-rechtlicher Rundfunk, die Wahrung der Persönlichkeitsrechte gegen
62 Verleumdung und üble Nachrede sowie solide Medienbildung von Kindesbeinen an sind Impfschutz
63 gegen demokratiefeindliche Kampagnen und Falschinformationen.
64 (257) Voraussetzungen für Demokratie sind ein gewaltfreier Diskurs und die Akzeptanz der
65 Menschenwürde sowie der unverletzlichen und unveräußerlichen Grund- und Menschenrechte. Eine
66 Gesinnung, die der oder dem Einzelnen ihre bzw. seine individuellen Bedürfnisse und
67 Interessen abspricht und die definieren will, wer dazugehört und wer nicht, ist
68 undemokratisch. Rassismus und Ausgrenzung widersprechen der Idee von politischer Gleichheit.
69 Zivilcourage und rechtsstaatliche Maßnahmen gegen Hass und Entmenschlichung sind zentral für
70 die Wehrhaftigkeit der vielfältigen Demokratie. Diskursräume müssen transparent,
71 grundrechtskonform und nach rechtsstaatlichen Grundsätzen gestaltet werden. Dies gilt gerade
72 auch für die Funktionsweise digitaler Plattformen.
73 (258) Die Interessen von Menschen, die sozial an den Rand gedrängt sind, die kaum Zugang zu
74 guter Bildung haben oder die unter den Anstrengungen von prekärer Arbeit leben, sind häufig
75 unterrepräsentiert.
51
76 Ihre stärkere Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen ist wichtig für Zusammenhalt
77 und Legitimation der repräsentativen Demokratie. Eine Garantie auf ein Existenzminimum,
78 ausreichend Zeit für politische Beteiligung sowie die Möglichkeit zur sozialen und
79 kulturellen Teilhabe aller sind notwendige Bedingungen für Demokratie.
80 (259) Unser Wirtschaftssystem unterliegt Werten und Regeln. Wirtschaftliche
81 Staatsbürger*innen-Rechte sind Teil der individuellen demokratischen Rechte. Die sozial82 ökologische Marktwirtschaft ist über betriebliche Mitbestimmung, Aktionär*innen-Beteiligung
83 sowie gewerkschaftliche Vertretung organisiert. All das braucht starke Gewerkschaften. Im
84 Sinne einer Wirtschaft, die dem Gemeinwohl dient, soll selbstverständlich sein, dass alle
85 Stakeholder und Betroffenen ein Mitspracherecht bei wichtigen Entscheidungen erhalten.
86 Mitbestimmung in den Betrieben und Unternehmen wollen wir stärken und ausbauen. Es muss
87 europäische Standards für die Mitbestimmung geben. Tariftreue muss Voraussetzung für die
88 Vergabe öffentlicher Aufträge sein. Auch die stärkere Beteiligung der Bevölkerung am
89 Produktivvermögen, zum Beispiel in Form von Mitarbeiter*innenbeteiligungen, kann mehr
90 Mitgestaltung in wirtschaftlichen Fragen bewirken.
91 (260) Verdeckte, einseitige Einflussnahme wirtschaftlich machtvoller Interessen gefährdet
92 die Demokratie. Für klare Schranken sorgen Transparenz und Kontrolle. Das wird durch die
93 Offenlegung von beispielsweise personellen Verflechtungen oder Nebentätigkeiten politischer
94 Entscheidungsträger*innen, Karenzzeiten für Regierungsmitglieder, ein verpflichtendes
95 Lobbyregister, eine unabhängige europäische Kontrollbehörde und die entschiedene Verfolgung
96 von Korruption erreicht. So kann Lobbyismus von finanzstarken Akteur*innen, der anderen
97 Interessen politische Spielräume nimmt und für unfaire Aushandlungsprozesse sorgt,
98 kontrollier- und sanktionierbar werden.
99 (261) Die Ausbildung einer transnationalen und europäischen Öffentlichkeit ist eine wichtige
100 Voraussetzung für eine funktionierende Zusammenarbeit und die Demokratisierung der EU.
101 Repräsentanz und Beteiligung
102 (262) Über Repräsentation und demokratisch geregelte Verfahren können sich Meinungen,
103 Interessen und Vorstellungen zu Entscheidungen und Mehrheiten angemessen und gerecht
104 bündeln. Das ist Grundlage demokratischer Machtausübung. Die parlamentarische Demokratie
105 schafft so legitime Herrschaft der Menschen über sich selbst.
106 (263) Grundprinzip der Demokratie ist, dass diejenigen, die Entscheidungen für andere
107 treffen, von diesen legitimiert, also gewählt werden müssen. Repräsentationsdefizite machen
108 die parlamentarische Demokratie angreifbar. Ein demokratisches Miteinander muss die
109 Voraussetzungen für sein Fortbestehen immer wieder neu schaffen und Ausschlüssen und
110 Repräsentationsdefiziten in den eigenen Strukturen entgegenwirken. Eine vielfältige
111 Gesellschaft muss sich in ihren demokratischen Institutionen und Einrichtungen abbilden.
112 Wer hier dauerhaft seinen Lebensmittelpunkt hat, muss die Möglichkeit haben, an Wahlen,
113 Abstimmungen und allen anderen demokratischen Prozessen gleichberechtigt teilzunehmen.
114 (264) Frauenrechte und die Rechte marginalisierter Gruppen sind der Gradmesser der
115 Demokratie. Frauen und marginalisierte Gruppen sollen an allen demokratischen Prozessen
116 gleichberechtigt beteiligt sein. Voraussetzung hierfür sind gerechte gesellschaftliche
52
117 Strukturen und Maßnahmen der Antidiskriminierung. Damit Frauen paritätisch in den
118 Parlamenten und gesellschaftlichen Führungspositionen vertreten sein können, braucht es
119 klare gesetzliche Regelungen sowie Lebensbedingungen, die es ermöglichen, Erwerbsarbeit sowie
120 Familien-, gesellschaftliche und politische Arbeit zu vereinbaren. Niemand sollte aus
121 organisatorischen Gründen auf ein politisches Mandat verzichten müssen.
122 (265) Unsere Demokratie hat ein erhebliches Repräsentationsdefizit, wenn Millionen
123 Jugendliche und Kinder ausgeblendet werden. Die Jugend ist politisch. Gleiches gilt für die
124 vielen Menschen, die nicht wählen dürfen, obwohl sie hier leben und Teil unserer
125 Gesellschaft sind. Entsprechend wollen wir Wahlhürden schrittweise abbauen, das Wahlalter
126 deutlich absenken und weitere Beteiligungsmöglichkeiten auf allen Ebenen ausbauen.
127 (266) Parlamente sind zentrale Orte der politischen Debatte und das Rückgrat unserer
128 vielfältigen Demokratie. Abgeordnete brauchen Unabhängigkeit und starke Kontrollrechte
129 gegenüber der Regierung. Parlamentarismus braucht das Ringen um beste Lösungen zwischen
130 Regierung und Opposition. Gleichzeitig trägt inhaltliche Zusammenarbeit abseits von starren
131 Fraktionsgrenzen wie im Europaparlament und in anderen europäischen Parlamenten zum Finden
132 dieser Lösungen bei. Für das Vertrauen in demokratische Verfahren ist es zentral, die
133 Nachvollziehbarkeit von Regeln, Prozessen und Ergebnissen gewährleisten zu können - zum
134 Beispiel mit einem legislativen Fußabdruck.
135 (267) Ziel einer lebendigen Demokratie ist es, möglichst vielen Menschen die Möglichkeit zu
136 geben, ihre konkrete Lebensrealität und ihre Zukunft aktiv mitzugestalten. Alle öffentlich
137 tagenden politischen Gremien sollten über das Internet sicherstellen, dass die
138 Sitzungsunterlagen rechtzeitig, vollständig und barrierefrei zur öffentlichen Einsicht
139 bereitgestellt werden. Demokratie braucht Parteien. Sie sind ein wichtiger Ort, wo Menschen
140 ihre politischen Haltungen, Interessen und Ziele organisieren und diese in die öffentliche
141 und parlamentarische Auseinandersetzung tragen können. Parteien wirken bei der
142 Meinungsbildung mit, bündeln Interessen und Werthaltungen und treten in einen demokratischen
143 Wettstreit zur Besetzung von Parlaments- und Staatsämtern.
144 (268) Parteien brauchen eine auskömmliche Finanzierung. Parteispenden von
145 Unternehmen können immer auch der Versuch von Einflussnahme und Lobbyismus sein. Spenden an
146 Parteien sind mit einer jährlichen Obergrenze zu versehen, um die Unabhängigkeit von
147 ökonomisch mächtigen Interessen zu garantieren. Für maximale Transparenz braucht es deutlich
148 niedrigere Grenzen für Veröffentlichungen. Zusätzlich zur erhöhten Transparenz bei
149 Parteispenden braucht es für Parteiensponsoring noch strengere Regeln.
150 (269) Direkte Beteiligungsmöglichkeiten bereichern die repräsentative Demokratie. Mit
151 Bürger*innen-Räten soll die Möglichkeit geschaffen werden, bei ausgewählten Themen die
152 Alltagsexpertise von Bürger*innen noch direkter in die Gesetzgebung einfließen zu lassen.
153 Zufällig ausgewählte Bürger*innen beraten in einem festgelegten Zeitraum über eine konkrete
154 Fragestellung und erarbeiten Handlungsempfehlungen und Impulse für die öffentliche
155 Auseinandersetzung und die parlamentarische Entscheidung. Es gilt sicherzustellen, dass die
156 Teilnehmenden sich frei, gleich und fair eine Meinung bilden können und dass ihnen
157 ausreichend Raum für eine intensive Auseinandersetzung mit der Fragestellung gegeben wird.
158 Bürger*innen-Räten kommt eine rein beratende Funktion für die öffentliche Debatte und
53
159 Gesetzgebung zu. Regierung und Parlament müssen sich mit den Ergebnissen auseinandersetzen,
160 ihnen aber nicht folgen. Bürger*innen-Räte können auf Initiative der Regierung, des
161 Parlaments oder als Bürgerbegehren zu einer konkreten Fragestellung eingesetzt werden. Das
162 soll auch auf Bundesebene möglich sein.
163 Föderale Europäische Republik
164 (270) Die Herausforderungen unserer Zeit können wir nur gemeinsam meistern. Daher brauchen
165 wir eine gestärkte politische Europäische Union. Es gilt, die EU im Zuge weiterer
166 Integrationsschritte gemeinsam mit den europäischen Bürger*innen zu stärken und
167 perspektivisch zur Föderalen Europäischen Republik mit einer europäischen Verfassung
168 weiterzuentwickeln.
169 (271) Die Föderale Europäische Republik schafft einen Rahmen, in dem sich nicht einzelne
170 mächtige Interessen oder Regierungen durchsetzen, sondern das Allgemeinwohl. In ihr werden
171 gleiche Rechte für alle Bürgerinnen über die EU-Grundrechtecharta verbindlich garantiert,
172 und zwar unabhängig davon, in welchem Land der Republik jemand lebt. An die Verwirklichung
173 dieser Rechte wird das Prinzip der Subsidiarität gebunden, wonach Aufgaben und
174 Zuständigkeiten auf der jeweils untersten Ebene – Kommune, Land, Bund, EU –, auf der Ziele
175 und Maßnahmen ausreichend erreicht werden können, behandelt werden. So wird die Souveränität
176 der Bürgerinnen gestärkt. Mittel aus dem EU-Haushalt sollen auch verstärkt kommunalen und
177 lokalen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen direkt bereitgestellt werden.
178
179 (272) Der zentrale Ort für alle Entscheidungen der Europäischen Union ist das Parlament. Die
180 Abgeordneten sollen nach europäischen Regeln auch über europäische Listen gewählt werden. Es
181 ist in einem Zweikammersystem zusammen mit dem Rat ein gleichberechtigter Teil der
182 gesetzgebenden Gewalt. Das Prinzip der Mehrheitsentscheidungen soll auf alle Gebiete
183 ausgeweitet werden, so dass die EU gemeinschaftlich handlungsfähig ist und einzelne Staaten
184 eine gemeinsame Politik nicht blockieren können. Der Rat übernimmt durch deutlich mehr
185 Transparenz seine Verantwortung als zweite Kammer gegenüber allen EU-Bürger*innen. Das
186 Europäische Parlament wird ermächtigt, selbst Gesetze auf den Weg zu bringen, alle
187 Politikbereiche der Union und das Budget zu kontrollieren. Die EU-Kommission soll in der
188 Föderalen Europäischen Republik Teil eines parlamentarischen Regierungssystems sein und von
189 der Kommissionspräsident*in vorgeschlagen und vom Parlament gewählt werden. Der Haushalt
190 speist sich auch aus eigenen Mitteln und wird vom Europäischen Parlament beschlossen. Er
191 verfügt über eigene Steuereinnahmen und ist groß genug, um makroökonomisch zu stabilisieren
192 und in schweren Krisen Zuschüsse in die nationalen Haushalte zu leisten.
193 Bundesstaat
194 (273) Demokratische Politik funktioniert von unten nach oben. Dörfer und Städte, in denen
195 wir leben, geben Halt in einer komplexen Welt, daher sind Kommunen zu stärken. Die Regionen
196 brauchen auf Ebene der Europäischen Union mehr Einfluss und Gewicht. Demokratische
197 Entscheidungen müssen so nah wie möglich an den Bürger*innen getroffen werden und immer
198 dort, wo sie am besten zu verwirklichen sind – in den Gemeinden und Städten, auf
199 Landesebene, in den Nationalstaaten oder auf Ebene der EU.
200 (274) Kooperationen zwischen den Ländern und zwischen den Kommunen sollen gestärkt werden.
54
201 Sinnvoll sind sie da, wo sie zu Effizienz- und ökologischen Gewinnen und gleichwertiger
202 Versorgung führen, etwa bei der nachhaltigen Stadt- und Dorfentwicklung, regionaler
203 Daseinsvorsorge, Klimaschutz und Bewältigung der Klimafolgen, bei Digitalisierung und
204 Mobilität.
205 (275) Städte und Gemeinden sind die Orte, an denen sich unser Zusammenleben abspielt, an
206 denen Demokratie anschaulich und lebendig wird. Kommunen brauchen daher eine
207 aufgabengerechte Finanzausstattung für gesetzliche Aufgaben und die sogenannten freiwilligen
208 Leistungen. „Wer bestellt, bezahlt“ – dieses Konnexitätsprinzip gilt. Wenn Kommunen Aufgaben
209 übertragen werden, brauchen sie dafür auch zusätzliche Mittel. Außerdem brauchen viele
210 Kommunen eine Altschuldenhilfe sowie ein Investitionsprogramm Daseinsvorsorge, um vor Ort
211 Gestaltungsspielräume zu erhalten.
212 Freiheit und Sicherheit
213 (276) Erst wenn sich Menschen sicher fühlen, leben sie frei, selbstbestimmt und in Würde.
214 Sicherheit muss für alle gleich garantiert sein, egal, wo jemand wohnt, was jemand glaubt,
215 wen jemand liebt, wie jemand aussieht oder woher jemand und die eigenen Vorfahren kommen.
216 Erst unsere Grundrechte und ihre Durchsetzung können allen Menschen Sicherheit geben. In
217 einer unfreien Gesellschaft ist niemand sicher. Freiheit und Sicherheit bedingen sich. Damit
218 das subjektive Sicherheitsgefühl der Menschen mit der objektiven Sicherheitslage
219 übereinstimmt, braucht es Information, Teilhabe, Schutz vor Armut und unaufgeregte Debatten.
220 (277) Der Rechtsstaat ist der Garant für die Gewährleistung von Bürger*innen- und
221 Menschenrechten sowie der vielfältigen Demokratie. Ein funktionierender Rechtsstaat
222 bedeutet: Alle Menschen sind gleich vor dem Gesetz und haben dieselben Rechte und Pflichten.
223 Der Rechtsstaat schützt die Rechte der oder des Einzelnen, auch und gerade gegenüber
224 staatlichen Eingriffen und sonstigem exekutivem Handeln. Damit dieser Rechtsstaat
225 funktioniert, braucht es eine unabhängige und gut ausgestattete Justiz, die in der Lage ist,
226 Recht zu sprechen, exekutive, behördliche oder legislative Maßnahmen effektiv zu prüfen und
227 gegebenenfalls wirksam zu korrigieren. Es braucht eine Anwaltschaft, die als Organ der
228 Rechtspflege respektiert, deren Vertrauensverhältnis zu ihren Mandanten gewahrt und deren
229 freie Berufsausübung gewährleistet wird. Vertrauen in den Rechtsstaat setzt wirksame
230 Rechtsdurchsetzung für alle voraus.
231
232 (278) Der Staat ist dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen verfassungsrechtlich
233 verpflichtet. Die Verpflichtung auf eine starke Nachhaltigkeit muss durch die unmittelbare
234 Bindung des Staates an die international vereinbarten Klimaschutz- und Biodiversitätsziele
235 und -verträge ergänzt werden. Da Verbrechen gegen die Umwelt nicht vor Ländergrenzen Halt
236 machen, ist es im globalen Interesse, dass die internationale Staatengemeinschaft eine
237 Gerichtsbarkeit schafft, die diese Verbrechen unabhängig und grenzüberschreitend verfolgt.
238 (279) Gleichheit vor dem Recht verlangt auch, dass sich wirtschaftliche und
239 gesellschaftliche Machtverhältnisse nicht im Rechtssystem fortsetzen. Der Rechtsstaat
240 ermöglicht kollektiven Rechtsschutz, schützt Whistleblowing, Verbraucher*innen,
241 Produzent*innen und kleinere Unternehmen effektiv gegen wirtschaftliche Übermacht.
242 (280) Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte haben mit dem Grundgesetz der
55
243 Bundesrepublik Deutschland sowie der Europäischen Grundrechtecharta ein starkes Fundament.
244 Doch auch ein Fundament muss gepflegt und modernisiert werden. Der Schutz der Grundrechte
245 soll weiter ausgebaut werden, auch im digitalen Raum. Auch im Netz muss das Recht effektiv
246 durchgesetzt werden. Die Verfassung definiert unser Gemeinwesen als wehrhafte Demokratie.
247 Demokratie ist unsere Stärke und ihr konsequenter Schutz ist handlungsleitend.
248 (281) Damit Rechtsstaatlichkeit in den europäischen Demokratien nicht noch weiter unter
249 Druck gerät, muss der Anwendungsbereich der EU-Grundrechtecharta auf nationales Recht
250 ausgeweitet werden. So erhalten alle EU-Bürger*innen die gleichen einklagbaren Grundrechte.
251 In Mitgliedstaaten, in denen die Unabhängigkeit der Justiz und die Freiheit der Medien nicht
252 ausreichend gewährleistet sind, sollen entsprechende Mittel stattdessen gekürzt oder von der
253 Europäischen Kommission direkt vergeben werden.
254 (282) Die öffentliche Sicherheit und den Schutz vor Gewalt zu gewährleisten, gehört zu den
255 wichtigsten Aufgaben des Staates. Jede*r hat das Recht auf ein Leben frei von Gewalt. Das
256 Gewaltmonopol liegt beim Staat. Dies ernst zu nehmen bedeutet ein Ende des privaten Besitzes
257 von tödlichen Schusswaffen, mit Ausnahme von Jäger*innen. Illegaler Waffenbesitz muss
258 geahndet werden.
259 (283) Rassismus ist in unserer Gesellschaft eine unleugbare Realität und in allen Strukturen
260 mehr oder minder präsent. Rassismus – und jede andere Form der gruppenbezogenen
261 Menschenfeindlichkeit – führt dazu, dass viele Menschen in Deutschland nicht sicher sind.
262 Damit bedroht er auch die Grundwerte der Demokratie. Dieser Menschenverachtung muss überall
263 entgegengetreten werden, ob in Parlamenten, im Netz, auf der Straße oder im Alltag, auch mit
264 den Mitteln des Strafrechts. Diskriminierende Strukturen müssen abgebaut werden, auch im
265 Verhältnis zwischen dem Staat und den Bürger*innen. Es bedarf einer nachhaltigen Bildungs266 und Präventionsarbeit, welche die Ursachen von Menschen- und Demokratiefeindlichkeit
267 erforscht und beseitigen hilft. Diskriminierung verletzt, und zwar unabhängig davon, ob sie
268 beabsichtigt ist oder nicht. Antirassismus benötigt die Perspektive und Expertise von
269 Menschen mit Rassismuserfahrung.
270 (284) Rechtsextremismus ist die größte Gefahr für die liberale Demokratie und die Sicherheit
271 in Deutschland. Dem muss mit einer antirassistischen und antifaschistischen Haltung klar
272 entgegen getreten werden. Rassismus, der von rechtsextremistischen Netzwerken und
273 Verfassungsfeinden in den und außerhalb der Parlamente geschürt wird, ist der geistige
274 Nährboden für terroristische Anschläge. Die Bekämpfung rechtsextremistischer Strukturen –
275 auch innerhalb der Sicherheitsbehörden - muss Priorität für alle Sicherheitsorgane haben.
276 (285) Die Mordserie des rechtsterroristischen NSU ist nicht aufgeklärt, die Verletzungen
277 der Angehörigen sind nicht verheilt. Es braucht daher eine unabhängige, zentrale Sicherung
278 und Aufarbeitung aller vorhandenen Unterlagen rassistischer, antisemitischer und
279 terroristischer Taten – von RAF, über NSU, Oktoberfestattentat und dem Anschlag vom Berliner
280 Breitscheidplatz. Hierdurch können Kontinuitäten und Netzwerkstrukturen sichtbar gemacht und
281 der Zusammenhalt in unserer vielfältigen Gesellschaft gestärkt werden.
282 (286) Islamismus und jede andere Form von religiösem Extremismus stellen sich gegen
283 Demokratie, Menschenrechte und Freiheit. Der Staat muss in der Lage sein, jede Form von
284 Terror und Fundamentalismus abzuwehren. Dazu gehören neben sicherheitspolitischen Maßnahmen
56
285 auch Prävention und Deradikalisierungsprogramme in aktiver Zusammenarbeit mit Schulen,
286 Jugendeinrichtungen und Religionsgemeinschaften.
287 (287) Der Schutz unserer Verfassung und der Grund- und Menschenrechte ist unser aller
288 Auftrag. Angriffe auf diese Grundwerte sind Angriffe auf unsere Verfassung und unsere
289 Demokratie. Diese zu schützen ist gemeinsame Aufgabe von Staat und Zivilgesellschaft. Dabei
290 braucht es klar definierte und abgegrenzte Kompetenzen. Um die Demokratie effektiv schützen
291 zu können, braucht es einen institutionellen Neuanfang der Verfassungsschutzbehörden:
292 einerseits nachrichtendienstliche Mittel, soweit sie zur Gefahrenerkennung und
293 Spionageabwehr unerlässlich sind; hiervon getrennt die Beobachtung von demokratie- und
294 menschenfeindlichen Bestrebungen mit wissenschaftlichen Methoden und ausschließlich anhand
295 von öffentlichen Quellen. Es braucht eine starke Kontrolle von Sicherheitsbehörden und
296 Geheimdiensten durch Parlamente, Gerichte und unabhängige Aufsichtsbehörden.
297 (288) Sichere öffentliche Räume ermöglichen Freiheit und Begegnung und sind damit Grundlage
298 für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Polizei schützt die Sicherheit und die
299 Grundrechte der Menschen. Wie jede öffentliche Institution ist sie dafür auf das Vertrauen
300 von allen Teilen der Gesellschaft angewiesen. Sie braucht eine diskriminierungssensible Aus301 und Weiterbildung, eine gute Ausstattung und ausreichend Personal – in der Stadt und auf dem
302 Land - sowie unabhängige Polizeibeauftragte. Als sichtbarer Arm des staatlichen
303 Gewaltmonopols ist die Polizei in besonderem Maße den Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit und
304 Demokratie verpflichtet. Bei Fehlverhalten müssen Fehler, strafbares Verhalten und
305 strukturelle Mängel ohne falsche Rücksichten aufgeklärt und geahndet werden. Polizeiliches
306 Handeln ist kein Ersatz für gesellschaftliche Problemlösungen.
307 (289) Es braucht eine faktenbasierte Kriminal- und Sicherheitspolitik, die über Polizei und
308 Justiz hinausgeht, die Wert auf Prävention und Hilfsangebote legt, die soziale Infrastruktur
309 sowie Stadt- und Raumplanung einbezieht und gegenseitige Rücksichtnahme fördert. Der
310 notwendige Umbau der Sicherheitsarchitektur gewährleistet bessere Koordination und klare
311 Verantwortlichkeiten. Staatliche Eingriffsmaßnahmen müssen zielgerichtet und verhältnismäßig
312 sein. Privacy by design, Transparenz und effektiver Rechtsschutz sichern die Rechte der
313 Bürger*innen. Anlasslose Massendatenspeicherungen wie auch unzulässige Eingriffe in die
314 Vertraulichkeit und Integrität von IT-Systemen untergraben umfassend Grundrechte und sind
315 der falsche politische Weg.
316 (290) Durch den grenzüberschreitenden Ausbau der Zusammenarbeit von Polizei und Justiz durch
317 gemeinsame europäische Polizeiteams, ein Europäisches Kriminalamt, die justizielle
318 Zusammenarbeit durch Eurojust und die europäische Staatsanwaltschaft wird in der
319 Sicherheitspolitik zunehmend europäisch koordiniert und kooperiert. Auch bei der Bekämpfung
320 von Korruption kann durch europäische Zusammenarbeit viel erreicht werden. Bei der Reform
321 der föderalen Zusammenarbeit von Sicherheitsbehörden werden einheitliche Standards
322 geschaffen, so dass verstärkt gemeinsam ermittelt werden kann. Wegen der zunehmenden
323 Vernetzung von europäischen Datenbanken sind hohe Datenschutzstandards und eine Verbesserung
324 des grenzüberschreitenden Rechtsschutzes unabdingbar. Die gemeinsame Zusammenarbeit braucht
325 eine unabhängige Justiz und faire Gerichtsverfahren in allen EU-Mitgliedsstaaten.
326 (291) Strafrecht als schärfster Eingriff des Staates in die Freiheitsrechte darf nur
57
327 äußerstes Mittel sein, denn es ist nicht das Allheilmittel zur Lösung gesellschaftlicher
328 Probleme aller Art. Damit die Justiz gut funktionieren kann, muss sie in der Lage sein, sich
329 auf das Wesentliche zu konzentrieren. Deswegen ist das Strafrecht zu entrümpeln, indem
330 Bagatellstraftaten wie Schwarzfahren entkriminalisiert werden.
331 (292) Strafen wirken vor allem dann präventiv, wenn sie zügig vollzogen werden. Die Justiz
332 ist entsprechend auszustatten. Asylrechtliche Maßnahmen sind keine Alternative zu
333 strafrechtlicher Verurteilungen und deren Vollzug.
334 (293) Ein humaner Strafvollzug ist Prüfstein für ein demokratisches Gemeinwesen, das
335 Freiheit und Würde seiner Bürger*innen achtet. Eine gelungene Resozialisierung von Tätern
336 ist der beste Schutz für potentielle Opfer. Das muss ein Leitbild für weitere Reformen des
337 Strafvollzugs sein. In ihrer heutigen Form verursachen Gefängnisstrafen oft mehr Probleme
338 als sie Vorteile haben. Insassen werden der Gesellschaft entfremdet und nicht selten tiefer
339 in die Kriminalität gedrängt. Daher sollen Vollzug und Sanktionensystem aufgrund
340 wissenschaftlicher Erkenntnisse weiterentwickelt werden. Nach dem Strafvollzug müssen Länder
341 und Kommunen die Entlassenen bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft umfassend durch
342 Hilfe bei Wohnen, Arbeit und Gesundheit unterstützen.
343 (294) Eine wehrhafte Demokratie muss sich auch online schützen. Demokratische
344 Willensbildungsprozesse dürfen nicht durch intransparente Social-Media-Kampagnen, den
345 Einsatz von Troll-Armeen und automatisierte Computerprogramme (Bots) sowie weitreichende IT346 Angriffe von Regierungen, Geheimdiensten oder ihnen nahestehenden Gruppierungen manipuliert
347 werden. Hierfür braucht es Digitalkompetenz in den zuständigen Behörden, gesetzliche
348 Transparenzverpflichtungen, klare internationale Übereinkünfte und eine rechtsstaatliche
349 Verfolgung über Ländergrenzen hinweg.
350 (295) Hass im Netz trifft gerade Frauen und diskriminierte Gruppen besonders stark. Die
351 effektive und verhältnismäßige Rechtsdurchsetzung muss auch bei Straftaten, die mittels
352 digitaler Technologie verübt werden, gewährleistet sein, dazu braucht es allen voran mehr
353 Fachexpertise und -personal. Dies muss einhergehen mit Prävention, dem umfassenden Schutz
354 und der Beratung Betroffener.
355 (296) Jede dritte Frau wird einmal in ihrem Leben Opfer von körperlicher oder sexualisierter
356 Gewalt. Auch LSBTIQ* sind oft Hass und Gewalt ausgesetzt. Bildung, Aufklärung, ein
357 Rechtsanspruch auf Schutz und eine verlässliche Infrastruktur aus Beratungs- und
358 Schutzeinrichtungen können Gewalt gegen Frauen und Mädchen verhindern. Dazu gehört auch
359 Prävention und eine Täterarbeit, die überkomme Männlichkeitsbilder kritisch hinterfragt.
360 Männer, insbesondere Jungen, die von (sexualisierter) Gewalt betroffen sind, brauchen eigene
361 Hilfs-, Beratungs- und Schutzangebote.
362 (297) Der Rechtsstaat zeigt sich in einer bürgerorientierten, leistungsstarken und für alle
363 zugänglichen öffentlichen Verwaltung und der Möglichkeit zu einem effektiven Rechtsweg gegen
364 ihre Entscheidungen. Für verlässliche, transparente Behörden braucht es regelmäßige Fort365 und Weiterbildungen und eine angemessene finanzielle, personelle und strukturelle
366 Ausstattung. Ein notwendiger Baustein besteht darin, dass sich die Verwaltung umfassend
367 qualifiziert, digitalisiert und automatisiert und ressortübergreifend arbeitet. Öffentliche
368 Verwaltung muss auf Augenhöhe mit finanziell mächtigen Interessen in Konzernen und Banken
58
369 agieren.
370 (298) Staatliche Institutionen müssen für die Vielfalt der Gesellschaft stehen.
371 Institutionelle Diskriminierung, insbesondere Rassismus, ist trotz formaler, rechtlicher
372 Gleichheit für viele Bürger*innen Realität. Es bleibt eine wichtige Aufgabe, durch Vielfalt
373 und Repräsentanz sowie mit Sensibilisierungsprogrammen und Monitoring dafür zu sorgen, dass
374 staatliche Strukturen alle Bürger*innen schützen und gleich behandeln. Dabei bedarf es der
375 Expertise von und der Unterstützung durch rassismuskritische und postmigrantische
376 Organisationen.
59
Antragstext
1 Kapitel 6: Solidarität sichern
2 Sicherheitsversprechen
3 (299) Es braucht ein neues soziales Sicherheitsversprechen. Ein starkes soziales Netz ist
4 die Grundlage für persönliche Entfaltung und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Niemand soll
5 unterhalb des Existenzminimums leben müssen. Soziale Politik schafft Teilhabe. Dafür braucht
6 es soziale und inklusive Infrastruktur, Orte des Miteinanders, diskriminierungsfreie Zugänge
7 sowie gleichwertige Lebensverhältnisse. Eine gute Daseinsvorsorge ist Voraussetzung für
8 Zusammenhalt.
9 (300) Freiheitsrechte bleiben ein Privileg von wenigen, wenn die sozialen Voraussetzungen
10 nicht beachtet werden. Das Grundgesetz soll deshalb um soziale Grundrechte wie zum Beispiel
11 das Recht auf Wohnen ergänzt werden.
12 (301) Die weitere Angleichung der Lebensverhältnisse in der Europäischen Union ist eine
13 Voraussetzung für eine von allen positiv erlebte Freizügigkeit. Die EU braucht daher
14 Investitionen in sozialen Zusammenhalt und Klimaschutz und keine destruktive Sparpolitik.
15 Sie hat die Europäische Union in der Vergangenheit belastet. Deregulierung, Privatisierungen
16 und Kürzungen von Ausgaben für Investitionen und Daseinsvorsorge dürfen keine Bedingungen für
17 Finanzhilfen sein.
18 Arbeit
19 (302) Für die meisten Menschen ist Erwerbsarbeit mehr als Existenzsicherung. Arbeit - ob in
20 Voll- oder Teilzeit - stiftet Sinn, man gehört dazu, bringt etwas voran. Erwerbsarbeit in
21 Vollzeit muss immer so viel wert sein, dass man davon auskömmlich leben kann. Arbeit soll
22 sich aber auch stärker am Leben der Menschen ausrichten und nicht das Leben an der Arbeit.
23 So umfasst Arbeit auch Haus-, Sorge- und ehrenamtliche Arbeit, die für eine funktionierende
24 Wirtschaft und Gesellschaft unerlässlich ist. Diese Formen der Arbeit müssen genauso viel
25 Anerkennung erfahren wie Erwerbsarbeit. Sie sollen für niemanden ein Armutsrisiko oder den
26 Verlust der Unabhängigkeit bedeuten.
27 (303) Darüber hinaus braucht es ein starkes Arbeitsrecht. Dazu zählen faire Löhne, ein
28 armutsfester Mindestlohn, Lohngleichheit bei gleicher und gleichwertiger Arbeit, klare
29 Vorgaben zu Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie die Regelung von Arbeitszeiten. Auch
30 Menschen mit geringer Qualifikation müssen die Möglichkeit haben zu fairen Bedingungen an
31 unserem Wirtschaftssystem zu partizipieren. Das Arbeitsrecht muss auch in digitalen
32 Arbeitsmodellen und Unternehmen vollständig gelten und gestärkt werden.
Solidarität sichern
GSP.S-01NEU: Kapitel 6: Solidarität sichern
Antragsteller*in: Bundesdelegiertenkonferenz
60
33 (304) Die Vertretung von Arbeitnehmer*innen-Interessen durch Gewerkschaften, Betriebsräte
34 und Schwerbehindertenvertretungen muss in allen Unternehmen und Branchen selbstverständlich
35 sein. Die Sozialpartnerschaft muss auch im Wandel bewahrt und ausgebaut werden. Für ihre
36 Lebensplanung brauchen Menschen Verlässlichkeit, auch im Erwerbsleben. Dazu gehören ein
37 effektiver Kündigungsschutz, flexible und gerecht aufgeteilte Elternzeit, faire Tariflöhne
38 und, als Grundsatz unbefristete Arbeitsverträge. Die Tarifbindung muss gestärkt werden und
39 die öffentliche Hand soll dies bei ihrer Auftragsvergabe berücksichtigen. Dafür braucht es
40 handlungsfähige Sozialpartner, starke Gewerkschaften ebenso wie verlässliche
41 Arbeitgeberverbände.
42 (305) Eine vielfältige Gesellschaft bringt immer vielfältigere Formen der Beschäftigung und
43 Arbeit hervor, oftmals jenseits einer Festanstellung. Je diverser die Arbeitswelt wird,
44 desto mehr brauchen wir eine soziale Sicherung, die alle Bürger*innen absichert. Um Solo45 Selbstständige zu unterstützen und gleichzeitig in das Sozialsystem einzubinden und um
46 prekäre Lebensverhältnisse zu verhindern, sollen neue Sicherungsmodelle entwickelt werden.
47 Solo-Selbstständigen soll der Eintritt in die Gesundheits- und Rentenversicherung
48 erleichtert werden und sie sollen die Möglichkeit haben, sich gegen Arbeitslosigkeit zu
49 versichern. Die Arbeitslosenversicherung soll allen Selbstständigen offenstehen sowie bezahlbar und flexibel
50 ausgestaltet werden. Dabei sollen die besonderen Bedingungen des jeweiligen Berufsbildes und der gestaffelten
51 Beiträge Auswirkungen sowohl auf den Anspruch wie auf die Auszahlung der Ersatzleistungen haben. Ebenso
52 bringt ein Zugang insbesondere für Solo-Selbstständige zu anderen Leistungen der Arbeitsförderung eine höhere
53 soziale Gleichheit.
54
55 (306) Der Arbeitsplatz soll ein Ort sein, an dem alle Menschen unabhängig von ihrer
56 Herkunft, Religion oder sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität sie selbst
57 sein können. Durch wirkungsvollen rechtlichen Schutz gilt es sicher zu stellen, dass alle
58 Menschen im Beruf diskriminierungsfrei arbeiten können.
59 (307) Menschen mit Behinderung, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten oder dort
60 arbeiten möchten, sollen die dafür notwendige Unterstützung erhalten. Menschen mit
61 Behinderung, die bislang in Werkstätten arbeiten, sollen bessere Möglichkeiten bekommen, in
62 den allgemeinen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu wechseln. Dafür sollen sich Werkstätten
63 weiter öffnen. Als echte Alternativen zu den Werkstätten sollen Integrationsunternehmen
64 ausgebaut werden. Das Ziel ist ein inklusiver Arbeitsmarkt.
65 (308) Erwerbsarbeit sorgt nicht nur für Einkommen, sondern bedeutet für die Menschen auch
66 gesellschaftliche Teilhabe, soziale Kontakte, Wertschätzung und Anerkennung. Deshalb
67 brauchen Menschen die lange arbeitslos sind, Chancen und Perspektiven. Sie benötigen einen
68 Sozialen Arbeitsmarkt, der Teilhabe ermöglicht. Dabei müssen Menschen, die individuelle
69 Betreuung und Hilfe brauchen, diese auch erhalten.
70
71 (309) Die ökologische Transformation und der digitale Wandel ändern das Wirtschaften
72 grundlegend, und damit auch die Arbeit und die Arbeitsbedingungen. Die Digitalisierung der
73 Arbeitswelt bietet Chancen und Risiken. Welche Tendenzen sich durchsetzen, ist eine Frage
74 der politischen Gestaltung. Ohne klare Steuerung im Sinne der Beschäftigten erleben wir neue
75 Formen von Ausbeutung, Überforderung und Entfremdung, von Überwachung und ständiger
61
76 Erreichbarkeit. Doch wenn die Transformation entsprechend politisch organisiert wird, bietet
77 sie große Chancen für mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Es gilt, die Möglichkeiten der
78 Digitalisierung zu nutzen, um schwere Tätigkeiten zu erleichtern.
79 (310) Neben Einkommen ist Zeithaben für viele Menschen ein immer größerer Wert. Die
80 Verfügbarkeit über die eigene Zeit schafft Lebenszufriedenheit. Die Steigerung der
81 Produktivität soll so genutzt werden, dass Menschen freier und souveräner agieren können.
82 Die Möglichkeit, selbst über die eigene Arbeitszeit zu bestimmen, gilt es zu stärken.
83 Gleichzeitig soll durch eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung Arbeit gerechter verteilt
84 werden, sodass alle Menschen mehr Zeit für sich selbst, ihre Familien, ihre Hobbys und für
85 gesellschaftliches Engagement haben. Das darf kein Privileg derjenigen bleiben, die es sich
86 leisten können. In Zeiten der Erziehung, Pflege und Weiterbildung braucht es eine
87 solidarische Unterstützung und Förderung. Auch Menschen mit niedrigem Einkommen sollen sich
88 Auszeiten leisten können.
89 (311) Die Veränderung der Arbeitswelt verlangt den Menschen viel ab: Flexibilität,
90 Umstellung, Anstrengung. Es braucht einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung und Umschulung,
91 die solidarisch finanziert werden. Dazu wollen wir die Arbeitslosenversicherung zu einer
92 Arbeitsversicherung erweitern und die Transformation der Arbeitswelt gerecht und
93 partizipativ gestalten. Für Menschen, die durch den Strukturwandel ihre Arbeit verlieren,
94 gibt es eine besondere gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Arbeitslosigkeit darf nicht
95 zum Ausschluss vom Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe führen.
96 (312) Mobiles Arbeiten bietet viele Möglichkeiten der selbstbestimmten Arbeitsgestaltung und
97 einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, birgt aber auch die die Gefahr der
98 Doppelbelastung insbesondere für Frauen. Das Recht auf mobiles Arbeiten muss gestärkt und
99 gleichzeitig durch betriebliche Regelungen, Mitbestimmung und einen verbesserten
100 Arbeitsschutz so gestaltet werden, dass möglichst viele der potentiellen Vorteile
101 verwirklicht werden können. Das Recht darf nicht zur Pflicht werden und der Anspruch auf
102 einen betrieblichen Arbeitsplatz muss erhalten bleiben
103 (313) Digitalisierung bietet die Möglichkeit für mehr Souveränität und Flexibilität. Dafür
104 ist mehr Mitsprache von Beschäftigten bei Umfang, Art und zeitlicher wie örtlicher Lage der
105 Arbeit nötig. Erwerbsarbeit darf nicht in andere Bereiche übergreifen. Überstunden müssen in
106 allen Bereichen erfasst und abgegolten werden.
107 (314) Menschen, die sich in sozialen und sorgenden Berufen um andere Menschen kümmern, sind
108 das Rückgrat unserer Gesellschaft. Doch es fehlt ihnen oft an gesellschaftlicher Anerkennung
109 und guten Arbeitsbedingungen. Das betrifft vor allem Frauen, besonders diejenigen mit
110 tatsächlicher oder zugeschriebener Migrationsgeschichte. Ihre Leistung für das Gemeinwesen
111 muss aufgewertet und besser bezahlt werden. Das umfasst vor allem eine bessere finanzielle
112 Ausstattung von kommunalen Einrichtungen sowie Investitionen in die Daseinsvorsorge.
113 (315) Das System der dualen Ausbildung hat sich bewährt und ist eine wichtige Säule unserer
114 Arbeitswelt. Es gewährleistet eine hohe Qualifikation und umfassende Kompetenzentwicklung.
115 Studium und Berufsausbildung in Verbindung mit beruflicher Erfahrung sind grundsätzlich
116 gleichwertig. Die Rechte von Auszubildenden müssen gestärkt werden und es braucht mehr
117 betriebliche Mitbestimmung. Ausbildungen umfassen Arbeit, sie muss gut entlohnt werden. Aus-
62
118 und Weiterbildung muss inklusiv sein. Sie muss in Teilzeit und modular möglich sein.
119 Geschlechtergerechtigkeit
120 (316) Noch immer bestehen große ökonomische und soziale Ungleichheiten zwischen den
121 Geschlechtern. Um Gleichberechtigung im Arbeitsleben zu erreichen, ist das Prinzip der
122 gleichen Bezahlung für gleichwertige Arbeit zentral.
123 (317) Alleinerziehende, überproportionale oft Mütter, tragen oftmals trotz Erwerbsarbeit ein
124 hohes Armutsrisiko. Deshalb ist hier eine besondere Absicherung und Entlastung durch den
125 Staat notwendig.
126 (318) Durch zahlreiche Regelungen im Steuer- und Sozialrecht wird eine ungleiche Aufteilung
127 von Erwerbsarbeit zwischen den Geschlechtern gefördert. Statt den Trauschein zu fördern,
128 soll für künftig geschlossene Ehen eine individuelle Besteuerung gelten. Das
129 Ehegattensplitting soll durch eine gezielte Förderung von Kindern und Familien, in ihren
130 unterschiedlichen Formen, ersetzt werden. Das Steuer-, das Arbeits- und das Sozialrecht
131 müssen auf gleichen Rechten beruhen und geschlechtsneutral wirken. Sie sollen stärker an
132 ökonomischer Unabhängigkeit ausgerichtet werden. Erwerbstätigkeit soll sich für alle
133 gleichermaßen lohnen.
134 (319) Unser gesellschaftliches Zusammenleben und unser wirtschaftlicher Wohlstand baut auf
135 Sorgearbeit auf, die meistens unbezahlt oder unterbezahlt von Frauen geleistet wird. Es
136 gilt, die Voraussetzungen zu schaffen, damit diese Arbeit gerecht zwischen den Geschlechtern
137 verteilt werden kann. Insbesondere Kinderbetreuung und die Pflege von Angehörigen und
138 Freund*innen sind keine Privatsache, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
139 Soziale Garantien
140 (320) Jeder Mensch hat das Recht auf soziale Teilhabe, auf ein würdevolles Leben ohne
141 Existenzangst. Deswegen überwinden wir Hartz IV und ersetzen es durch eine
142 Garantiesicherung. Sie schützt vor Armut und garantiert ohne Sanktionen das soziokulturelle
143 Existenzminimum. So macht sie Menschen in Zeiten des Wandels stark und eröffnet Chancen und
144 Perspektiven für ein selbstbestimmtes Leben.
145 (321) Die Garantiesicherung ist ein individuelles Recht und soll sich an den Prinzipien der
146 Teilhabe- und der Bedarfsgerechtigkeit orientieren und ohne weitere Bedingungen für jeden
147 Menschen gelten, dessen eigene finanzielle Mittel nicht ausreichen. Sie soll Sicherheit
148 geben und die konkrete Lebenssituation und den Wohnort berücksichtigen. Ihre Inanspruchnahme
149 darf nicht durch bürokratische Hürden in den Antragsverfahren faktisch verhindert werden.
150 Eigene Erwerbsarbeit muss sich immer lohnen und honoriert werden.
151 (322) Existenzsichernde Sozialleistungen sollen Schritt für Schritt zusammengeführt und
152 langfristig soll die Auszahlung in das Steuersystem integriert werden. So schaffen wir einen
153 transparenten und einfachen sozialen Ausgleich. Verdeckte Armut wird überwunden. Dabei orientieren wir uns an
154 der Leitidee eines Bedingungslosen Grundeinkommens. Soziale Sicherungssysteme sollen so gestaltet werden,
155 dass deren Finanzierung möglichst krisenfest ist.
156 (323) Die Föderale Europäische Republik ist eine Solidargemeinschaft, in der alle
157 Bürger*innen die gleichen sozialen Rechte genießen. Dazu muss die Währungsunion zunächst um
63
158 eine Sozialunion mit starken gemeinsamen Mindeststandards erweitert werden, damit die
159 Schieflage zwischen weitreichenden wirtschaftlichen Freiheiten und wenig entwickelten
160 Arbeits- und Sozialstandards in der EU korrigiert wird. Dafür braucht es gemeinsame soziale
161 Standards, wie etwa zu Mindestlohn, Grundsicherung, sowie eine europaweite
162 Arbeitslosenrückversicherung. Darauf aufbauend wollen wir gemeinsame Instrumente der
163 Sozialpolitik schaffen.
164 (324) Einer Gesellschaft mit hoher Gleichheit geht es fast immer besser als einer
165 Gesellschaft mit hoher Ungleichheit. Dennoch hat die soziale Ungleichheit zugenommen.
166 Ungleiche Vermögen führen zu ungleichen Einkommen und ungleichen Lebenschancen, die sich
167 über Generationen vererben. Das bedeutet finanzielle Not für viele Menschen, einen Verlust
168 an Zufriedenheit, es treibt die Menschen auseinander und schadet dem friedlichen
169 Zusammenleben und der wirtschaftlichen Stabilität. Das Steuersystem ist ein effektiver
170 Hebel, um Ungleichheit zu reduzieren. Es braucht eine gleichere Verteilung von Einkommen,
171 Vermögen, Erbschaften und Chancen und die Verbesserung der öffentlichen Infrastrukturen, die
172 sozialen Zusammenhalt und Teilhabe schaffen.
173 (325) Gerade bei Kindern und Jugendlichen führen eine ungleiche Verteilung von Einkommen und
174 Vermögen sowie ungleiche Bedingungen je nach Wohnort oder Zugang zum Bildungssystem zu
175 ungleichen Lebenschancen. Alle Kinder brauchen funktionierende und zugängliche öffentliche
176 Orte wie Kitas und Schulen oder Sportvereine, Schwimmbäder und Bibliotheken. Kein Kind in
177 unseren reichen Gesellschaften darf arm oder ein Armutsrisiko für Eltern sein. Jedes Kind
178 ist gleich viel wert. Das soll über eine Kindergrundsicherung garantiert werden. Darüber
179 hinaus braucht es eine Gesamtstrategie gegen Kinderarmut, die neben der finanziellen
180 Absicherung auch Infrastrukturangebote umfasst.
181 (326) Es gilt, die soziale Infrastruktur und öffentliche Daseinsvorsorge in der gesamten Europäischen
182 Union gemeinsam auszubauen und im Sinne geteilter Gemeingüter zu stärken.
183 Rente
184 (327) Solidarität lebt davon, dass sich alle an ihr beteiligen. Die Sozialversicherungen
185 sollen deshalb zu Bürgerversicherungen weiterentwickelt werden, so dass alle Menschen vom
186 Schutz der Sozialversicherungen profitieren und sich entsprechend ihren Einkommen, egal ob
187 aus selbstständiger Arbeit, Lohn oder Kapitalerträgen, solidarisch beteiligen.
188 (328) Das Umlagesystem der Rentenversicherung sichert als Generationenvertrag die
189 Altersvorsorge und ist weniger krisenanfällig als andere Systeme. Gleichzeitig stehen
190 Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung durch die strukturelle Alterung der Gesellschaft
191 vor großen Herausforderungen. Oberste Priorität ist, die Altersarmut zu verhindern und ein
192 lebensstandardsicherndes Rentenniveau zu erhalten. Langjährig in der gesetzlichen
193 Rentenversicherung Versicherte dürfen im Alter nicht auf Leistungen der Grundsicherung
194 angewiesen sein. Bei Menschen, die dennoch eine Aufstockung auf Grundsicherungsniveau
195 benötigen sollte dies unbürokratisch und würdevoll erfolgen.
196 (329) Die Einwanderung von Arbeitskräften, eine steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen
197 sowie eine breitere Solidarität über eine Bürgerversicherung helfen dabei, das Rentenniveau
198 langfristig abzusichern. Auch die Abschaffung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und das
199 Vermeiden prekärer Erwerbsbiographien trägt dazu bei, Altersarmut zu vermeiden.
64
200 (330) Private und betriebliche Altersvorsorge können die gesetzliche Rente sinnvoll
201 ergänzen. Die kapitalgedeckten Säulen der Altersvorsorge sollen künftig öffentlich
202 organisiert und verwaltet werden. Jede*r, die oder der nicht widerspricht, soll sich daran
203 beteiligen. So wird eine attraktive Rendite auch für Kleinanleger*innen erzielt und alle
204 Menschen werden mit geringem Risiko am Produktivvermögen beteiligt.
65
Antragstext
1 Kapitel 7: Auf Bildung bauen
2 Recht auf Bildung
3 (331) Bildung unterstützt Menschen dabei, ihr Leben eigenverantwortlich und selbstbestimmt
4 zu gestalten. Sie trägt dazu bei, die eigenen Potentiale und Interessen zu entwickeln und
5 offen für neue Erkenntnisse und Erfahrungen zu bleiben sowie soziale Verantwortung zu
6 tragen. Das Recht auf gute Bildung ist ein lebenslanges und jedem Menschen offen stehendes
7 Recht auf Selbstbestimmung, Mündigkeit und gesellschaftliche Teilhabe.
8 (332) Ein gutes Bildungssystem fördert Zukunftskompetenzen auf allen Ebenen – Kooperation,
9 Kommunikation, Kreativität, kritisches Denken. Und es muss Freiheit lassen für neue Ideen
10 und Lernerfahrungen aller Beteiligten. Ein gleichberechtigter Zugang zu Bildung, auch für
11 Menschen mit Behinderung, ist Grundlage für gesellschaftliche Weiterentwicklung. Das
12 Bildungssystem muss Kinder, Jugendliche und alle Lernenden befähigen, eine selbstbestimmte
13 und nachhaltige Zukunft zu gestalten, die von Unwägbarkeiten, Klimakrise, digitalem Wandel
14 und sozialen Veränderungen geprägt sein wird. Als Schlüssel für Gestaltungskompetenz soll
15 Bildung für nachhaltige Entwicklung auf allen Bildungsebenen verankert sein. Kitas und
16 Schulen sind Schnittstellen zu Familien und Gesellschaft und damit Lebensraum für soziales
17 Lernen und Bildungsstätte für präventive resilienzfördernde Kompetenz gegen häusliche und
18 sexualisierte Gewalt. Dazu braucht es entsprechend ausgebildete Pädagog*innen und Angebote
19 für Kinder und Jugendliche.
20 (333) Das Bildungssystem soll zu ganzheitlichem Denken, zu nachhaltigem Handeln, zu
21 gegenseitigem Respekt und zu verantwortungsvollem Entscheiden befähigen und Menschen die
22 selbstbestimmte Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen. Es ist damit die Grundlage für
23 eine freie und demokratische Gesellschaft. Das heißt auch, gesellschaftliche und
24 technologische Entwicklungen kritisch hinterfragen und einordnen zu können, um Fake News
25 oder Verschwörungserzählungen entgegenzutreten. Kitas und Schulen sollen Orte sein, an denen
26 Kinder und Jugendliche durchgängig Wertschätzung und Mündigkeit erfahren, demokratisches
27 Zusammenleben praktisch leben und über ihre Lernprozesse mitentscheiden können. Rollenbilder
28 und Geschlechternormen, rassistische, diskriminierende sowie Dominanzstrukturen müssen in
29 allen Bildungseinrichtungen problematisiert, reflektiert sowie strukturell aufgearbeitet und
30 daher auch in der Ausbildung pädagogischer Berufe thematisiert und kritisch hinterfragt
31 werden. Zur interkulturellen Verständigung kann ein für alle zugänglicher internationaler
32 Bildungsaustausch beitragen.
33 (334) Gute Bildung zeichnet sich dadurch aus, dass sie bestehende Ungleichheiten nicht
34 zementiert, sondern sie überwinden hilft. Es ist staatliche Aufgabe, ungleiche
In Bildung investieren
GSP.B-01NEU: Kapitel 7: In Bildung investieren
Antragsteller*in: Bundesdelegiertenkonferenz
66
35 Startbedingungen aufgrund von sozialen Benachteiligungen, dem Wohn- und Lebensumfeld, von
36 Diskriminierung oder Sprachvoraussetzungen auszugleichen. Es ist Aufgabe des Staates,
37 Talente zu fördern. Deshalb brauchen wir sozial diverse und inklusive Schulen, in denen
38 junge Menschen so lange wie möglich gemeinsam lernen. Alle jungen Menschen sollen unabhängig
39 vom Bildungsgrad und Einkommen ihrer Eltern den bestmöglichen Bildungsgrad erwerben können.
40 Dabei muss die individuelle Entwicklung der jungen Menschen im Mittelpunkt stehen.
41 Entwicklungsevaluationen nehmen die individuelle Person in den Blick, statt Schüler*innen
42 vergleichend zu bewerten. Unser Bildungssystem soll durchlässiger, gerechter und
43 leistungsfähiger und so an die internationale Spitzengruppe anschlussfähig werden. Dafür ist
44 wesentlich, sicherzustellen, dass alle Jugendlichen mit Verlassen der Schule über eine
45 ausreichende Qualifikation in Schlüsselkompetenzen verfügen. Gleichzeitig soll die
46 Begabungsförderung ausgebaut werden.
47 (335) Bildung ist eine wichtige Grundlage für gute Entwicklungschancen im Leben und trägt
48 maßgeblich dazu bei, dass Menschen in der modernen und nachhaltigen Arbeitswelt ihren Platz
49 finden. Ein starkes Bildungssystem ist zentral für die wirtschaftliche Zukunft unseres
50 Landes und entwickelt sich im Austausch mit allen Akteuren stetig weiter.
51
52 (336) Für eine glückliche Schulzeit ist es auch entscheidend, dass die Schule für alle
53 ein diskriminierungsfreier und sicherer Ort ist. Dafür muss das pädagogische Personal
54 fortgebildet und insbesondere Kinder und Jugendliche mit Diskriminierungserfahrung müssen
55 gestärkt und ermächtigt werden. Dazu gehört auch zeitgemäße, altersgerechte Aufklärung an
56 Schulen. Besonders queere Jugendliche können Ablehnung und Unverständnis in der Schule, aber
57 auch in der eigenen Familie erfahren. Daher müssen auch außerschulische Angebote, wie zum
58 Beispiel Jugendzentren, besser ausgestattet werden. Sie können zum Verständnis der eigenen
59 Situation und Aufbau eines sozialen Netzwerks beitragen. Dabei ist es wichtig, auch
60 spezifische Angebote für Trans* Jugendliche und von Mehrfachdiskriminierung betroffene
61 Jugendliche bereitzustellen.
62 Kita und Schule
63 (337) Die Grundlagen für einen guten Bildungsweg werden in der frühen Kindheit gelegt.
64 Unterschiede bei den sozialen Voraussetzungen werden vor allem durch eine flächendeckende,
65 qualitativ hochwertige frühkindliche Bildung ausgeglichen, die möglichst alle Kinder
66 erreicht. Das stellt neue Anforderungen an das pädagogische Fachpersonal in den Kitas,
67 weswegen es überall im Land gute Personalschlüssel und verbindliche Qualitätsstandards
68 braucht. Um den unterschiedlichen Bedarfen der Kinder gerecht zu werden, arbeiten Menschen
69 in multiprofessionellen Teams. Um der Individualität von Kindern gerecht zu werden, ist eine
70 gute Personalausstattung bei angemessener Bezahlung sicherzustellen.
71 (338) Der Ganztag an Schulen soll nicht nur Wissen vermitteln, sondern soziale Kompetenzen
72 und das Miteinander fördern sowie eine stärkere Verknüpfung zwischen Lernen, Erfahren,
73 Erforschen und Erproben gewährleisten. So können gezielt soziale und kulturelle
74 Benachteiligungen überwunden werden. Die Qualität muss durch verbindliche Standards
75 gesichert werden. Auf den Ganztag soll es einen Rechtsanspruch geben.
76 (339) Bildungspolitik und Sozialpolitik gehören zusammen. Bildungsorte müssen
67
77 dementsprechend eingebettet sein in Netzwerke sozialer Unterstützungsleistungen, die das
78 Leben von Kindern und Jugendlichen ganzheitlich betrachten, passgenaue Hilfen anbieten und
79 verhindern, dass Einzelne den Anschluss verlieren. Bildungseinrichtungen sollen die
80 Kooperation untereinander verstärken und sich zur Zivilgesellschaft und zum Stadtteil hin
81 öffnen.
82 (340) Die Finanzierung des Bildungssystems ist eine zentrale Aufgabe für eine
83 zukunftsgewandte Gesellschaft und Voraussetzung für Gerechtigkeit. Denn Vermögen und
84 Bildungszugang hängen immer noch besonders stark zusammen. Um die Kosten einer besseren
85 Ausstattung des Bildungssystems zu tragen, das allen Kindern und Jugendlichen die gleichen
86 Chancen bietet, kann die höhere Besteuerung von Vermögen bzw. Erbschaften einen Beitrag
87 leisten. Ressourcen sollen zielgenau nach den Bedarfen der Schüler*innen und Schulen
88 eingesetzt werden.
89 (341) Die Lernmittel sowie der Zugang zu Schulen und Kitas sollen für Lernende und Lehrende
90 (kosten-)frei sein, einschließlich digitaler Endgeräte, benötigter Software und
91 Internetzugang. Eine vermehrte Nutzung von Opensource ist der Schlüssel zu einer
92 partizipativen und souveränen digitalen Bildung.
93 (342) Alle Kitas und Schulen in Deutschland sollen sich zu inklusiven Orten
94 weiterentwickeln. Das muss sich in einer ausreichenden Anzahl an entsprechend ausgebildeten
95 Mitarbeiter*innen, aber auch in deren Vielfalt widerspiegeln. Inklusive pädagogische
96 Konzepte müssen es jedem Kind und jedem Jugendlichen unabhängig von intellektuellen, sozial97 emotionalen, physischen oder sonstigen Voraussetzungen ermöglichen, gemeinsam zu lernen, die
98 eigene Persönlichkeit und eigene Potentiale zu entwickeln und am gesellschaftlichen Leben
99 teilzuhaben. Schulen müssen ihre Pädagogik an die Schüler*innen anpassen, nicht umgekehrt.
100 Dazu brauchen sie Zeit, Gestaltungsspielraum, kleinere Klassen, neue Reflexions- und
101 Bewertungsstrukturen, inklusive pädagogische Konzepte, individuelle Lernwege und
102 multiprofessionelle Unterstützung.
103 (343) Gute Schulen brauchen Entscheidungsspielräume, gut ausgebildete Lehrkräfte, die den
104 Unterricht so gestalten, dass er den natürlichen Wissensdurst, die Neugier und die
105 Spielfreude junger Menschen fördert, sowie multiprofessionelle Teams auf Augenhöhe, die eine
106 ganzheitliche Entwicklung stärken. Das bedeutet auch, dass sich die Ausbildung der
107 Lehrkräfte anhand der Lebensrealitäten der Kinder und Jugendlichen sowie der
108 gesellschaftlichen und technologischen Entwicklung kontinuierlich weiterentwickelt. Offene
109 und durchlässige Strukturen und vielfältige Methoden im Unterricht und in der Schule helfen,
110 Potentiale zu entfalten und praktische und theoretische Stärken zu entwickeln. Die
111 individuelle Förderung der Kinder je nach Potential ist entscheidend, deshalb sind große
112 Klassen mit zusätzlicher personeller Unterstützung auszustatten. Indem sie kulturelle
113 Kompetenzen als Ressource begreifen, leisten Schulen einen wichtigen Beitrag in der
114 vielfältigen Einwanderungsgesellschaft. Aus diesem Grund sollten Schulen in ihren
115 Veränderungsprozessen professionell unterstützt werden.
116 (344) Kitas und Schulen sind besonders wichtige Orte für das selbstbestimmte
117 Heranwachsen in einer digitalen Welt. Bildungseinrichtungen müssen technisch so ausgestattet
118 sein, dass alle Kinder die digitale Wirklichkeit erleben und sie mitgestalten können. Zu
68
119 einer guten technischen Ausstattung gehören auch gut ausgebildete pädagogische Fachkräfte.
120 Beides zu gewährleisten, ist dringliche Aufgabe der öffentlichen Hand. Der Lernalltag muss
121 genug Zeit für alle Kinder einräumen, digitale Kompetenzen zu erwerben. Dabei müssen sowohl
122 das technische Grundverständnis als auch die gesellschaftliche und soziale Dimension der
123 digitalen Entwicklung Thema sein. Die Kinder von heute werden die Gestalter*innen der Welt
124 von morgen sein. Dafür brauchen sie das nötige Rüstzeug und einen kritischen Blick, mit dem
125 sie technische Entwicklungen auch hinterfragen. Geschlechterklischees in der digitalen
126 Bildung und Informatik müssen überwunden werden. Digitales Lernen ermöglicht auch eine
127 Stärkung des individualisierten und inklusiven Unterrichts und macht Schulen flexibler und
128 krisenfester. Dabei muss es auch Ziel sein soziale Unterschiede zu verringern.
129 (345) Das deutsche Bildungssystem braucht eine deutlich bessere Mittelausstattung für mehr
130 Personal, Infrastruktur und Gebäude. Gut gestaltete und gesunde Räume sind für die
131 Entwicklung unserer Kinder von erheblicher Bedeutung. Dabei müssen regionale Unterschiede
132 berücksichtigt und Kommunen mit hoher Armutsquote in der Bevölkerung gezielt unterstützt
133 werden. Der Wohnort soll nicht über die Qualität der Förderung entscheiden. Vor allem für
134 den Kita- und Primarbereich müssen die Ausgaben verdoppelt werden, denn hier werden die
135 Weichen für den Bildungserfolg gestellt. Insgesamt soll Deutschland sich bei den
136 Bildungsausgaben an der Spitzengruppe im OECD-Vergleich orientieren.
137 (346) Der Föderalismus schützt die Demokratie und sichert regionale Vielfalt. Er darf jedoch
138 nicht dazu führen, dass eine Verständigung auf bundesweite Bildungsziele und -standards
139 sowie nötige Investitionen in Digitalisierung, Ganztag oder Inklusion unterbleiben. Das
140 können die Länder nicht allein leisten, sondern es ist eine gesamtstaatliche Aufgabe. Das
141 Kooperationsverbot muss zu einem Kooperationsgebot gemacht werden.
142 Lebensbegleitendes Lernen
143 (347) Bildung ist ein lebenslanger Prozess. Die staatliche Verantwortung beginnt mit der
144 Kita und der Schule und erstreckt sich über die berufliche Bildung und die Hochschulbildung
145 bis hin zum Recht auf Weiterbildung und Erwachsenenbildung. Sie wird umrahmt von einem
146 lebensbegleitenden Prozess der nonformalen Bildung. Bildung muss stärker als jemals zuvor in
147 jedem Alter selbstverständlicher Teil des Lebens werden. Allgemeine und berufliche
148 Weiterbildung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, damit ein selbstbestimmtes Leben und
149 gesellschaftliche Teilhabe gesichert werden.
150 (348) Kein Ausbildungsschritt soll ohne Abschluss und Anschluss bleiben. Jeder Mensch soll
151 die Möglichkeit haben, zu jedem Zeitpunkt in seinem Leben Schul- und Hochschulabschlüsse,
152 Berufsausbildungen oder Teilqualifizierungen zu erwerben. Der garantierte und
153 niedrigschwellige Zugang zur Erwachsenenbildung in Form des „zweiten Bildungswegs“ fördert
154 die soziale Mobilität innerhalb der Gesellschaft und ist unerlässlich für das Ziel gleicher
155 Bildungs- und Lebenschancen. Direkt nach der Schule muss der Weg für alle Jugendlichen in
156 eine angemessen bezahlte, anerkannte Berufsausbildung oder in eine Hochschulbildung offen
157 sein. Außerdem müssen ausländische Bildungsabschlüsse schnell und unbürokratisch anerkannt
158 werden können. Menschen mit Brüchen im beruflichem Werdegang soll der Wiedereinstieg in den
159 Arbeitsmarkt durch Anerkennung ihrer erworbenen Kompetenzen erleichtert werden.
160 (349) Alle Menschen, die nicht oder nicht ausreichend lesen, schreiben oder rechnen können,
69
161 sollen leichten Zugang zu Bildungsangeboten und speziellen Förderungen haben und diese in
162 Anspruch nehmen können.
163 (350) Der Fokus beim digitalen Lernen liegt auf der Medienkompetenz und der digitalen
164 Mündigkeit. Gezielt sollen auch Erwachsene mit wenig Erfahrung im Umgang mit digitalen
165 Medien angesprochen werden, damit sie die Möglichkeiten der digitalen Welt selbstbestimmt
166 und sicher nutzen können.
167 (351) Lebensbegleitendes Lernen erfordert ein breites Spektrum an privaten, betrieblichen
168 und auch öffentlich verantworteten Weiterbildungsinstitutionen. Es ist eine staatliche
169 Aufgabe zu ermöglichen, dass Orte der außerschulischen Bildung ein für alle bezahlbares und
170 flexibel nutzbares Weiterbildungsangebot anbieten, damit jede*r die für ihren Bedarf
171 notwendigen Fähigkeiten und Kompetenzen erwerben kann. Sie und ähnliche Einrichtungen
172 gehören zur Daseinsvorsorge und müssen zu barrierefreien Knotenpunkten der
173 Erwachsenenbildung werden.
174 (352) Viele Menschen lernen in unterschiedlichsten Vereinen, Jugendverbänden und
175 Bildungsstätten sich einzubringen und mitzubestimmen. Auch diese außerschulische und
176 nonformale Bildung muss ausreichend Raum und finanzielle Möglichkeiten erhalten.
177 (353) Bildungswege sind heutzutage dauerhaft, berufsbegleitend und mit Wechseln verbunden.
178 Bildungsfinanzierung muss dieser Realität angepasst werden und unabhängig vom
179 Bildungszeitraum als ein eltern-, alters- und leistungsunabhängiger Vollzuschuss konzipiert
180 sein, um das Recht auf Bildung zu unterstützen. Niemandem dürfen aufgrund prekärer
181 Beschäftigung die Möglichkeiten essenzieller Qualifikation verwehrt sein.
182 (354) Bildungszugänge sind stark durch die Eigenheiten der Stadtteile oder durch Stadt-Land183 Gegensätze geprägt. Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zu sichern bedeutet, es auch
184 Kindern im ländlichen Raum zu ermöglichen, mit akzeptablen Schulwegen eine hochwertige
185 Bildung zu erreichen. Der Erhalt von kleinen Schulen soll durch Vernetzung ermöglicht
186 werden. Kreative Konzepte wie mobile Mediatheken, Bibliotheken und Labore schaffen nicht nur
187 für Erwachsene Bildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten in strukturschwachen Räumen. Diese
188 müssen ebenso gefördert werden wie der Schüler*innen-Transport. Das gehört zur staatlichen
189 Daseinsvorsorge. Jede*r hat ein Recht auf Weiterbildung.
70
Antragstext
1 Kapitel 8: International zusammenarbeiten
2 Frieden und internationale Ordnung
3 (355) Die großen politischen Herausforderungen unserer Zeit lassen sich nur global lösen.
4 Nachhaltige Politik bedarf vorausschauendes Handeln in internationaler Kooperation.
5 (356) Eine an Frieden, Freiheit, Solidarität, Gewaltfreiheit, Menschenrechten und globaler
6 Gerechtigkeit orientierte Politik braucht Bündnisse all derer, die an den Wert von
7 Kooperation und die Stärke des Rechts in den internationalen Beziehungen glauben – gerade
8 weil offene Gesellschaften und freiheitliche Demokratien immer stärker auch im globalen
9 Systemwettbewerb mit autoritären Staaten und Diktaturen stehen. Deutschland und Europa
10 müssen sich selbstbewusst dieser Auseinandersetzung stellen. Multilaterale Zusammenarbeit in
11 den internationalen Organisationen bleibt die beste Form, globale Politik zu gestalten.
12 (357) Es braucht eine internationale Ordnung, die auf der gerechten Verteilung globaler
13 Ressourcen und auf verbindlichen Regeln fußt, die die Rechte von Einzelnen und von
14 Kollektiven schützt, Konflikte verhindert oder gewaltfrei und zum Wohle der Allgemeinheit
15 löst.
16 (358) Eine friedliche und gerechte Weltordnung erfordert starke Vereinte Nationen mit dem
17 Ziel einer Weltinnenpolitik. Sie sind das zentrale Forum, um völkerrechtliche Normen zu
18 entwickeln und sich auf weltgemeinschaftliche Ziele zu verständigen. Sie haben wichtige
19 Institutionen und Verfahren für die Vorbeugung, Beilegung und Nachsorge von Gewaltkonflikten
20 entwickelt. Die Vereinten Nationen wie auch Regionalorganisationen müssen deshalb gestärkt
21 werden.
22 (359) Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist unsere Brücke in die
23 Zivilgesellschaften der Welt. Das Netzwerk ihrer Akteur*innen schafft sichere
24 Begegnungsräume für den kulturellen Austausch, Zugang zu Bildung und Wissen und übernimmt
25 Verantwortung auch aus unserer Geschichte heraus. Sie ist wertegeleitete Außenpolitik auf
26 individueller Ebene, die Frieden und Entwicklung, internationale Kooperation und Solidarität
27 in den Mittelpunkt stellt.
28 (360) Zur Bearbeitung globaler Herausforderungen braucht es die Europäische Union als
29 Friedensmacht, die sich ihrer Verantwortung in der Welt, besonders im Rahmen der Vereinten
30 Nationen, bewusst ist und zum Prinzip der internationalen Kooperation steht. Dieser
31 Verantwortung kann die EU nur gerecht werden, wenn sie nationale Spaltungen überwindet und
32 gemeinsam handelt. Die Antwort auf die aktuellen globalen Herausforderungen ist eine stetige
33 Vertiefung und Weiterentwicklung der EU, perspektivisch hin zu einer Föderalen Europäischen
International zusammenarbeiten
GSP.I-01NEU: Kapitel 8: International zusammenarbeiten
Antragsteller*in: Bundesdelegiertenkonferenz
71
34 Republik.
35 Europäische Union
36 (361) Die Europäische Union ist die Antwort Europas auf zwei Weltkriege und den Holocaust.
37 Sie ist Anker für Multilateralismus, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und demokratische
38 Souveränität in einer globalisierten Welt. Es gilt, das Versprechen der Europäischen Union
39 auf eine wertebasierte Politik nach innen und außen einzulösen. Bei Krisen gerät das Projekt
40 EU immer wieder unter Druck, die Nationalstaaten agieren ohne Absprachen und oft
41 unsolidarisch. Gerade in Krisen aber zeigt sich, dass die EU als Gemeinschaft stärker ist
42 als jedes Land für sich allein und dass die Europäische Union mehr ist als ein Binnenmarkt.
43 Sie muss weiterhin als politisches Projekt fortentwickelt werden, welches Krisen kooperativ
44 und solidarisch bewältigt.
45 (362) Es ist zentrale Verantwortung der EU-Mitgliedstaaten, die Gräben in der Europäischen
46 Union nicht durch nationale Egoismen zu vergrößern. Es ist ihre Verantwortung, die
47 Handlungsfähigkeit der EU nach innen und außen zu verbessern.
48 (363) Die Europäische Grundrechtecharta, freie Binnengrenzen und europäische Freizügigkeit
49 sind Meilensteine der europäischen Einigung, hinter die wir nicht zurückfallen dürfen. Sie
50 müssen für alle Menschen in der EU gelten. Wenn nationale Regierungen Minderheitenrechte
51 bedrohen und Freiheiten abbauen, ist die intensive Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft
52 und pro-europäischen Kräften vor Ort umso wichtiger.
53 (364) Auf Grundlage der gemeinsamen Werte braucht es ein gemeinsames strategisches
54 Bewusstsein und Handeln der EU, das sich durch die verschiedenen Politikbereiche zieht.
55 Indem die EU mehr Souveränität und strategische Handlungsfähigkeit aufbaut, kann sie auch
56 global Demokratie schützen und den Klimaschutz voranbringen sowie in der Wirtschafts- und
57 Finanzpolitik an Menschenrechten und Gemeinwohl orientierte Standards setzen. Das schafft
58 gemeinsame Gestaltungskraft und -macht in einer vernetzten Welt.
59 (365) Mit dem größten Binnenmarkt der Welt hat die EU wirtschaftlich einen großen Einfluss.
60 Daraus erwächst die Verantwortung, Globalisierung sinnvoll zu gestalten und an
61 Menschenrechten, Gemeinwohl und Nachhaltigkeit orientiert zu regulieren, um Krisen zu
62 verhindern statt sie zu verstärken. Wer ökologisch, sozial, transparent und
63 menschenrechtskonform produziert, soll davon einen Vorteil haben. Wer das Gegenteil tut,
64 soll negative Konsequenzen spüren.
65 (366) Damit Herausforderungen nicht nur durch die eigene nationalstaatliche Brille
66 betrachtet werden und um gegenseitiges Verständnis zu stärken, braucht es einen gesamt67 europäischen Diskurs in der europäischen Öffentlichkeit sowie eine europäische
68 Zivilgesellschaft. Dafür sind nichtkommerzielle und von der Europäischen Union geförderte
69 Kommunikations- und Begegnungsräume für alle Europäer*innen notwendig – digital, über die klassischen
70 Medien
71 und im direkten Austausch miteinander –, ebenso wie gemeinsame Organisationsformen wie
72 europäische Vereine und gemeinnützige Organisationen.
73 (367) Nicht alle EU-Staaten wollen immer dasselbe zur selben Zeit und die fehlende Einigung
74 der EU-Staaten oder die Blockadehaltung einzelner Staaten dürfen nicht zur Ausrede für
72
75 kollektives Nichthandeln werden. Deshalb können Mitgliedstaaten im Rahmen verstärkter
76 Zusammenarbeit nächste Schritte eher gehen als andere und in bestimmten Bereichen gemeinsam
77 vorangehen. Dabei ist immer sicherzustellen, dass das Projekt der Europäischen Union als
78 Ganzes nicht gefährdet wird und dass alle Mitgliedstaaten sich jederzeit anschließen können.
79 So kann es in einem Bündnis der europäischen Demokratien auch gegen die nationalistischen
80 Kräfte und Regierungen in Europa gelingen, das europäische Einigungswerk fortzusetzen sowie
81 Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu stärken.
82 (368) Die EU muss weltpolitikfähig werden, um im Sinne universeller Werte und daraus
83 abgeleiteter Interessen die Regeln und Realitäten des internationalen Umfelds mitgestalten.
84 Eine geeinte Europäische Union kann in der globalisierten Welt als Akteurin wirkmächtig
85 handeln und demokratische und nachhaltig orientierte Gestaltungskraft entfalten. Die
86 Grundlage dafür bilden die Menschenrechte und die globalen Nachhaltigkeitsziele.
87 (369) Die EU muss ihre Soft Power nutzen, um die internationale Politik entscheidend
88 mitzugestalten. Dabei gilt es, nationale Interessen im Lichte des europäischen Gemeinwohls
89 und der Handlungsfähigkeit der EU zu definieren und die Leitlinien der Mitgliedstaaten in
90 einer gemeinsamen außenpolitischen Strategie zu bündeln. Das Prinzip der Einstimmigkeit soll
91 durch Mehrheitsentscheidungen ersetzt werden, um die gemeinsame Außen- und
92 Sicherheitspolitik der EU (GASP/GSVP) zu stärken und so handlungsfähiger zu werden.
93 (370) Das Friedensprojekt Europa ist mehr als die EU. Daraus erwachsen Verpflichtungen im
94 Erweiterungsprozess und in der Nachbarschaftspolitik. Die EU steht in der politischen
95 Verantwortung, das Vertrauen in das Beitrittsversprechen nicht zu enttäuschen und
96 gleichzeitig den notwendigen Reformprozess in den Beitrittsländern mitzugestalten.
97 Partnerschaften, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Solidarität mit den Regionen in der
98 Nachbarschaft der EU tragen zu Stabilität und Sicherheit bei. Die Östliche Partnerschaft der
99 EU ist eine wichtige Säule, die auf demokratischer Solidarität und der selbstbestimmten
100 Entwicklung der osteuropäischen Nachbarn basiert. Auch die Kooperationen mit Staaten in
101 Nordafrika und dem Nahen Osten können Demokratisierung, Durchsetzung von Menschenrechten und
102 wirtschaftliche Entwicklung stärken. Unter dieser Prämisse sollen sie ausgebaut werden. Die
103 gemeinsamen europäischen Institutionen wie OSZE oder Europarat sind im Zusammenspiel mit
104 einer starken Europäischen Union wichtige Plattformen einer multilateralen Weltordnung.
105 Multilaterale Beziehungen
106 (371) Die Vereinten Nationen bilden den multilateralen Rahmen der internationalen
107 Zusammenarbeit. Mehr Verantwortung in den Vereinten Nationen erfordert von Deutschland und
108 der EU, ihr Engagement finanziell, personell und diplomatisch substanziell zu verstärken,
109 besser zu koordinieren und die internationalen Vereinbarungen auch konsequent und kohärent
110 in nationale und europäische Politik umzusetzen. Dabei geht es um das Prinzip der Reform
111 durch Stärkung. Das ist gerade wichtig, wenn nationale Egoismen zunehmen und wichtige
112 Entscheidungen blockiert werden.
113
114 (372) Partnerschaften der EU mit Regionalorganisationen wie der Afrikanischen Union (AU)
115 und der südostasiatischen Staatengemeinschaft (ASEAN) sollen intensiviert werden, um
116 multilaterale Kooperation, Demokratie, Menschenrechte und globale Nachhaltigkeit zu stärken.
73
117 Insbesondere die Afrikanische Union (AU) sollte beim Aufbau ihrer Kapazitäten gestärkt und
118 der Selbstvertretungsanspruch der afrikanischen Länder in internationalen Foren unterstützt
119 werden.
120 (373) Der Sicherheitsrat und andere Organe der Vereinten Nationen müssen an die Realitäten
121 des 21. Jahrhunderts angepasst werden. Das betrifft sowohl die strukturelle und finanzielle
122 Ausstattung von VN-Organisationen als auch eine gerechtere Repräsentation der Regionen im
123 Sicherheitsrat. Das Konzept der Vetomächte ist nicht mehr zeitgemäß und mit diesem Anspruch
124 nicht vereinbar. Das Vetorecht soll langfristig abgeschafft werden und als Zwischenschritt
125 muss im Falle von schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein Veto im Sicherheitsrat
126 mit einer Begründung und einem Alternativvorschlag versehen werden. Wenn der Sicherheitsrat
127 im Falle von schwersten Menschenrechtsverletzungen anhaltend blockiert ist, soll die
128 Generalversammlung an seiner Stelle über friedenserzwingende Maßnahmen mit qualifizierter
129 Mehrheit beschließen.
130 (374) Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) soll als Sonderorganisation der VN und als
131 wichtigste Organisation im Bereich der globalen Gesundheit politisch, finanziell und
132 personell gestärkt werden. Ihre Aufgabe kann sie nur mit einer ausreichenden Ausstattung an
133 staatlichen, deutlich höheren Beiträgen und einem starken Mandat ausführen.
134 (375) Wenn multilaterale Prozesse in den Vereinten Nationen und der EU dauerhaft blockiert
135 sind, braucht es im Sinne der Stärkung des internationalen Rechts und der internationalen
136 Ordnung Vorreiter*innen und innovative Konzepte, die offen für möglichst alle Beteiligten
137 sind. Es braucht die Partnerschaft mit Demokratien und mit Demokrat*innen weltweit, um das
138 Völkerrecht zu stützen, demokratische Prozesse in der Welt zu erhalten, sowie für die Stärke
139 des Rechts statt das Recht des Stärkeren einzutreten.
140 (376) In Zeiten von dysfunktionalen internationalen Institutionen bauen informelle Formate
141 Brücken. Diese dürfen aber nicht Machtinstrumente gegenüber denen sein, die nicht an ihnen
142 beteiligt sind. Zum Beispiel spielen die G20 eine wichtige Rolle für die internationale
143 wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Bewältigung globaler Herausforderungen. Sie müssen
144 für andere Akteure offen sein. Langfristig sollen die Beratungen der G20 in den Wirtschafts145 und Sozialrat der Vereinten Nationen überführt werden.
146
147 (377) Die transatlantische Partnerschaft, die seit Jahrzehnten ein Stützpfeiler der
148 deutschen Außenpolitik gewesen ist, muss erneuert und damit gestärkt, europäisch gefasst,
149 multilateral orientiert und an klaren gemeinsamen Werten ausgerichtet werden. Dazu gehören
150 das Eintreten für Nachhaltigkeit, für Menschenrechte, für Rechtsstaat und Demokratie und für
151 internationale Solidarität. Die Zusammenarbeit soll alle staatliche wie
152 zivilgesellschaftlichen Organisationen und Institutionen einbeziehen, die in ihrem Land und
153 international zu einer solchen Perspektive beitragen können. Zur Lösung der
154 Menschheitsherausforderungen braucht es auch Kooperation mit Russland und China. Diese darf
155 nicht zu Lasten von Drittstaaten oder von Menschen- und Bürger*innenrechten gehen.
156 Demokratie und Menschenrechte sind der Maßstab für die Vertiefung der Beziehungen.
157 (378) Neben der staatlichen Zusammenarbeit sind Bündnisse mit und zwischen Städten und
158 Regionen, Wirtschaftsakteur*innen sowie Zivilgesellschaften zentral. Nichtstaatliche Akteure
74
159 gehören stärker in Aushandlungsprozesse auf bilateraler und multilateraler Ebene einbezogen
160 und in ihrer Vernetzung untereinander unterstützt. Im Dialog mit der globalen
161 Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft müssen neue Wege entwickelt und globale
162 Bündnispartner*innen gefunden werden, um die sozial-ökologische Modernisierung und die
163 Achtung der Menschenrechte voranzutreiben. Auch wenn es noch keine Einigung auf ein
164 internationales Vorgehen gibt, kann so in zentralen Bereichen wie beim Handel oder in der
165 Flucht- und Migrationspolitik vorangegangen werden.
166 (379) Zu einer fairen Globalisierung gehört die Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe
167 genauso wie die Mitbestimmung und demokratische Organisierung auf kommunaler und regionaler
168 Ebene. Politik und nicht transnationale Konzerne muss die internationalen Spielregeln für
169 die Weltwirtschaft bestimmen.
170 (380) Die eigene kulturelle, sprachliche und religiöse Identität zu leben, muss
171 gewährleistet sein. Statt in regionale Nationalismen, Unabhängigkeitsbestrebungen oder
172 gewaltsame Konflikte zu verfallen, braucht es eine Politik für nationale Minderheiten, die
173 deren Rechte auf kulturelle und sprachliche Vielfalt stärkt sowie gleichberechtigte
174 gesellschaftliche Teilhabe und kulturelle Partizipation sichert und fördert.
175 Globale Sicherheit
176 (381) Eine an universeller Würde und Freiheit orientierte Politik denkt Sicherheit nicht von
177 nationalen Grenzen, sondern von jedem einzelnen Menschen her. Zivile Krisenprävention,
178 soziale Sicherheit, Menschenrechte, die Gleichberechtigung der Geschlechter, die
179 Ermächtigung marginalisierter Gesellschaftsgruppen, insbesondere auch von LSBTIQ*, eine
180 gewaltfreie Regelung von Konflikten, Wiederaufbau, Klima- und Umweltschutz, gerechte
181 Ressourcenverteilung und die Geltung des internationalen Rechts sind Grundlage einer
182 nachhaltigen Friedens- und Sicherheitspolitik. Dazu gehören auch die europäische Integration
183 und die Beteiligung an Systemen kollektiver Sicherheit.
184 (382) Über Frieden und Sicherheit nachzudenken sollte nicht erst beginnen, wenn beides schon
185 in Gefahr ist. Konsequent auf alle Politikfelder angewandt kann das Prinzip der Vorsorge
186 viel Leid verhindern. Nachhaltige Sicherheit kann nur gemeinsam erreicht werden.
187 Friedenslogisches Handeln muss die Interessen und Bedrohungswahrnehmungen der jeweils
188 anderen Seiten berücksichtigen. Gespräche setzen nicht zwingend Vertrauen voraus, sondern
189 Vertrauen entsteht durch den Abbau klischeehafter Feindbilder und eine gezielte
190 Entspannungspolitik.
191 (383) Zivile Krisenprävention und politische Konfliktbearbeitung müssen noch stärker
192 institutionell verankert werden. Dazu bedarf es ausreichender Analysekapazitäten,
193 Regionalkompetenz, Wirkungsforschung, eines intensivierten Wissenstransfers zwischen
194 Wissenschaft, Praxis und Politik und der unmittelbaren Verfügbarkeit von Personal und
195 Material. Zivile Krisenprävention und politische Konfliktlösung haben Vorrang vor dem
196 Einsatz militärischer Gewalt, was sich auch in der tatsächlichen institutionellen,
197 finanziellen und personellen Ausstattung widerspiegeln muss. Wo sich multiple Krisen häufen,
198 kommt es besonders darauf an, bei der Krisenprävention schneller besser zu werden.
199 (384) Das allgemeine Gewaltverbot der VN-Charta ist eine große Errungenschaft. VN-geführte
75
200 Friedenseinsätze sind ein zentrales Instrument kollektiver Friedenssicherung und als solche
201 trotz aller Defizite – gerade durch eine größere europäische Beteiligung an
202 Blauhelmeinsätzen –zu stärken.
203 (385) Die Europäische Union ist eine Friedensmacht. Das Primat des Zivilen und das breite
204 Spektrum ziviler Instrumente zeichnen sie aus. Friedensmissionen, zivile Krisenprävention,
205 Diplomatie, internationale Zusammenarbeit, humanitäre Hilfe und Auswärtige Kultur- und
206 Bildungspolitik, Mediation, die Bereitstellung von Zivil- und Sicherheitsexperten,
207 Rechtsstaatsförderung und gesellschaftliche Verständigungsarbeit sind die Stärken der
208 Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Sie muss institutionell, personell und
209 finanziell gestärkt und noch enger verzahnt werden.
210 (386) Eine starke Außen- und Sicherheitspolitik ist feministisch. Die gleichberechtigte
211 Vertretung von Frauen in der internationalen Politik sowie ihre gleichberechtigte
212 Beteiligung und Mitbestimmung an diplomatischen Verhandlungen oder bei der Zusammensetzung
213 sicherheits- und außenpolitischer Gremien ist dafür Maßgabe. Feministische Außenpolitik
214 folgt dem Leitbild der "menschlichen Sicherheit". Frauen und marginalisierte Gruppen sind in
215 besonderem Maße von Kriegen und gewaltsamen Konflikten betroffen. Die migrantische
216 Perspektive ist auch in außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen zu integrieren.
217 (387) Die Klimakrise ist ein globales Sicherheitsrisiko. Klimapolitik ist daher ein
218 zentraler Bestandteil der globalen Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Dafür ist
219 ein internationales Rahmenwerk auf VN- und EU-Ebene zur Vermeidung von Klima- und
220 Umweltkonflikten erforderlich, um Staaten und Regionen, die besonders von den Folgen der
221 Klimakrise oder von Rohstoffknappheit, Dürren, Nahrungsknappheit und Überschwemmungen
222 betroffen sind, zu schützen und zu unterstützen: die Responsibility to Prepare.
223 (388) Abrüstung, Rüstungskontrolle und die Nichtverbreitung von Waffen sind und bleiben
224 wesentliche Pfeiler jeder Friedenspolitik. Unser Anspruch ist es, alle Länder hier
225 einzubeziehen, insbesondere auch die neue Supermacht China. Abrüstung und Rüstungskontrolle
226 bedeuten global mehr Sicherheit für alle. Es bedarf eines strengen Regelwerkes zur Abrüstung
227 und zum Verbot von chemischen, biologischen und nuklearen Massenvernichtungswaffen. Der
228 Beitritt Deutschlands zum VN-Atomwaffenverbotsvertrag und die Stärkung des nuklearen
229 Nichtverbreitungsvertrags gehören dazu. Dafür muss gemeinsam mit den internationalen und
230 europäischen Partnern am Ziel eines atomwaffenfreien Europas gearbeitet werden. Dazu braucht
231 es ein Deutschland frei von Atomwaffen und damit ein zügiges Ende der nuklearen Teilhabe.
232 Der Anspruch ist nichts Geringeres als eine atomwaffenfreie Welt.
233 (389) Exporte von Waffen und Rüstungsgütern an Diktatoren, menschenrechtsverachtende Regime
234 und in Kriegsgebiete verbieten sich. Für die Reduktion von Rüstungsexporten braucht es eine
235 gemeinsame restriktive Rüstungsexportkontrolle der EU mit starken Institutionen und in EU236 Gemeinschaftsrecht gegossene Exportkriterien. EU-Mitgliedstaaten, die gegen verbindliche
237 Rüstungsexportkriterien verstoßen, müssen mit Sanktionen rechnen. Der Einsatz von
238 Sicherheitsfirmen in internationalen Konflikten muss streng reguliert und private
239 Militärfirmen müssen verboten werden. Kooperationen mit dem Sicherheitssektor anderer
240 Staaten müssen an die Einhaltung demokratischer, rechtstaatlicher und menschenrechtlicher
241 Kriterien geknüpft werden.
76
242 (390) Autonome tödliche Waffensysteme, die keiner wirksamen Steuerung mehr durch den
243 Menschen bei Auswahl und Bekämpfung von Zielen unterliegen, stellen eine unberechenbare
244 Bedrohung dar. Es ist entscheidend für Frieden und Stabilität, Autonomie in Waffensystemen
245 international verbindlich zu regulieren und ihre Anwendungen, die gegen ethische und
246 völkerrechtliche Grundsätze verstoßen, zu ächten und zu verbieten. Das gilt auch für
247 digitale Waffen wie Angriffs- und Spionagesoftware. Hierbei müssen Deutschland und die EU
248 eine globale Führungsrolle einnehmen. Weiterentwickelte, verbindliche Regeln sollen eine
249 Militarisierung des Weltraumes verhindern.
250 (391) Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten müssen sich gegen Angriffe auf ihre
251 kritische Infrastruktur schützen. Um Angriffe über und auf das Internet zu verhindern,
252 braucht es mehr eigene Anstrengung zur Sicherung der Infrastruktur und ein internationales
253 Vertragswerk.
254 (392) Die Anwendung militärischer Kriegsgewalt bringt immer massives Leid mit sich. Wir
255 wissen aber auch, dass die Unterlassung in einzelnen Fällen zu größerem Leid führen kann.
256 Deshalb ist es so wichtig, frühzeitig auf Konflikte einzuwirken und zu verhindern, dass sie
257 zu bewaffneten Auseinandersetzungen eskalieren. Das Konzept der Schutzverantwortung
258 („Responsibility to Protect“) verpflichtet Staaten, ihre Bevölkerung vor schwersten
259 Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. In diesen
260 Fällen können die Vereinten Nationen Zwangsmaßnahmen beschließen. Die Schutzverantwortung
261 verpflichtet die Staatengemeinschaft gleichermaßen, ihre Instrumente für Prävention,
262 Krisenreaktion und Nachsorge bzw. Wiederaufbau kriegszerstörter Gesellschaften auszubauen.
263 Diplomatische Initiativen, Mediation und UN-Friedenseinsätze können Gewalt eindämmen und
264 Voraussetzungen für Friedensprozesse schaffen. Zentral für Frieden, Versöhnung und
265 Gerechtigkeit ist auch der Einsatz gegen die Straflosigkeit von Menschenrechtsverbrechen.
266 (393) Der Einsatz von militärischer Gewalt ist immer nur äußerstes Mittel. Er kommt nur in
267 Betracht, wenn alle alternativen Möglichkeiten wie Sanktionen oder Embargos aussichtslos
268 sind. Ein Militäreinsatz braucht einen klaren und erfüllbaren Auftrag, ausgewogene zivile
269 und militärische Fähigkeiten und unabhängige Evaluierungen. Bewaffnete Einsätze der
270 Bundeswehr im Ausland sind in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit, das heißt
271 nicht in verfassungswidrigen Koalitionen der Willigen, und in ein politisches Gesamtkonzept,
272 basierend auf dem Grundgesetz und dem Völkerrecht, einzubetten. Bei Eingriffen in die
273 Souveränität eines Staates oder dort, wo staatliche Souveränität fehlt, braucht es ein
274 Mandat der Vereinten Nationen. Wenn das Vetorecht im Sicherheitsrat missbraucht wird, um
275 schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu decken, steht die Weltgemeinschaft vor
276 einem Dilemma, weil Nichthandeln genauso Menschenrechte und Völkerrecht schädigt wie
277 Handeln.
278 (394) Die Bundeswehr ist eine im Grundgesetz und in internationalen Bündnissen verankerte
279 Parlamentsarmee. Daraus erwächst eine Fürsorgepflicht des Parlaments gegenüber den aktiven
280 und ehemaligen Soldat*innen und Zivilbeschäftigten sowie die Verpflichtung, sie entsprechend
281 ihrem Auftrag und ihren Aufgaben personell und materiell auszustatten. Der Auftrag und die
282 Aufgaben der Bundeswehr orientieren sich an den realen und strategisch bedeutsamen
283 Herausforderungen für Sicherheit und Friedenssicherung. Sie ist ein notwendiges Mittel
284 staatlicher und internationaler Sicherheitspolitik. Deutschland soll sich auf seine
77
285 Bündnispartner verlassen können und genauso sollen sich die Bündnispartner auf Deutschland
286 verlassen. Die Gesamtverantwortung für den Einsatz muss begründet, Informationen über alle
287 Operationen im Einsatz den Verbündeten vollständig zugänglich sein. Direkte Einsätze im
288 Rahmen der VN haben dabei Vorrang vor Kriseneinsätzen der EU und der NATO.
289 (395) Die Prinzipien der „Inneren Führung“ und der „Staatsbürger*innen in Uniform“ binden
290 die Soldat*innen an die Gesellschaft und die Werte und Normen des Grundgesetzes. Eine
291 Bundeswehr, die fest in unserer Gesellschaft verankert ist, muss die Vielfalt der
292 Gesellschaft abbilden. Das betrifft den Anteil von Menschen unterschiedlicher sozialer
293 Herkunft, mit und ohne Migrationserfahrung, von People of Color sowie von Frauen, die in der
294 Bundeswehr beschäftigt sind. Menschenfeindliche Ideologien und rechtsextremistische
295 Strukturen in der Bundeswehr müssen konsequent verfolgt und zerschlagen werden. Unsere
296 Geschichte lehrt uns, wie unersetzlich demokratische und antifaschistische Grundwerte sowie
297 Demokratiebildung gerade in einer Armee sind. Der bewaffnete Einsatz der Bundeswehr im
298 Inneren ist abzulehnen.
299 (396) Gemeinsam mit den internationalen Partnern muss die Europäische Union ihrer
300 Verantwortung für die eigene Sicherheit und Verteidigung gerecht werden. Die gemeinsame
301 Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU setzt eine gemeinsame EU-Außenpolitik voraus.
302 Es braucht eine parlamentarisch kontrollierte Sicherheitsunion. Anstatt immer mehr Geld in
303 nationale, militärische Parallelstrukturen zu leiten, sollte die verstärkte Zusammenarbeit
304 der Streitkräfte in der EU ausgebaut, militärische Fähigkeiten gebündelt und allgemein
305 anerkannte Fähigkeitslücken geschlossen werden. Dafür braucht es eine geeignete Ausstattung,
306 den Ausbau von EU-Einheiten sowie eine Stärkung und Konsolidierung der gemeinsamen EU307 Kommandostruktur.
308 (397) Die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union muss strategisch,
309 vorausschauend, umfassend und schnell handlungsfähig sein. Dazu braucht es eine gemeinsame
310 Analysefähigkeit sowie eine Stärkung des Europäischen Auswärtigen Dienstes. Schritt für
311 Schritt sollen immer mehr Entscheidungen in diesem Bereich mit qualifizierter Mehrheit
312 getroffen werden können.
313 (398) Die NATO leidet unter divergierenden sicherheitspolitischen Interessen innerhalb der
314 Allianz bis hin zur gegenseitigen militärischen Bedrohung. Ihr fehlt in dieser tiefen Krise
315 eine klare strategische Perspektive. Trotzdem bleibt sie aus europäischer Sicht neben der EU
316 unverzichtbarer Akteur, der die gemeinsame Sicherheit Europas garantieren kann und der als
317 Staatenbündnis einer Renationalisierung der Sicherheitspolitik entgegenwirkt. Es braucht
318 aber eine strategische Neuausrichtung. Mit einer stärkeren militärischen Zusammenarbeit und
319 Koordinierung innerhalb der EU und mit den europäischen NATO-Partnern wie Großbritannien und
320 Norwegen können europäische Werte und strategische Interessen geschlossen und überzeugender
321 vertreten werden.
322 (399) Frieden in Europa bedeutet mehr als Frieden, Sicherheit und Stabilität in der EU.
323 Damit die Vision einer friedlichen Zukunft für alle Europäer*innen Wirklichkeit werden kann,
324 braucht es die gemeinsamen, über die EU hinausreichenden europäischen Institutionen wie den
325 Europarat und die OSZE, um alle europäischen Staaten einzubinden. Sie müssen gestärkt und
326 weiterentwickelt werden, um das Ziel eines tatsächlich effektiven und starken Systems
78
327 kollektiver Sicherheit in ganz Europa zu erreichen. Auch angesichts der nationalistischen
328 und rückwärtsgewandten Politik Russlands, die Europas Sicherheit und die Selbstbestimmung
329 der Nachbarn Russlands untergräbt, bleibt das Ziel, auf der Basis gemeinsamer Werte diesen
330 östlichen Nachbarn der Europäichen Union für eine solche Perspektive zu gewinnen.
331 Globale Strukturpolitik
332 (400) In einer verflochtenen Welt verbinden und überkreuzen sich alle Bereiche der Politik.
333 Globale Strukturpolitik muss für die sozial-ökologische Transformation einen abgestimmten,
334 vernetzten Ansatz verfolgen, der auch inländische Politikbereiche einbezieht und innere
335 Widersprüche im Regierungshandeln konsequent ausräumt. Alle politischen Entscheidungen
336 müssen einem verpflichtenden Nachhaltigkeitscheck unterzogen werden.
337 (401) Handlungsrahmen für das Gesamtregierungshandeln sind die Menschenrechte, die
338 Klimaziele von Paris und die Agenda 2030 mit ihren 17 Zielen für eine nachhaltige
339 Entwicklung. Sie sind Voraussetzung dafür, Strukturen global und nachhaltig gestalten zu
340 können. So konnten Erfolge bei der Bekämpfung von Armut und Hunger sowie beim Zugang zum
341 Gesundheits- und Bildungssystem erreicht werden. Der Einsatz für Geschlechtergerechtigkeit
342 ist integraler Bestandteil einer queerfeministischen Strukturpolitik. Das Recht auf
343 Entwicklung gilt weltweit. Um die globalen Nachhaltigkeitsziele im Rahmen der planetaren
344 Grenzen einzuhalten und das globale Zusammenleben möglichst krisenfest zu gestalten, braucht
345 es eine globale sozial-ökologische Transformation.
346 (402) Internationale Zusammenarbeit, insbesondere Entwicklungspolitik mit Staaten und
347 Zivilgesellschaften in ärmeren Regionen der Welt darf nicht einseitigen migrations-,
348 wirtschafts- oder sicherheitspolitischen Interessen untergeordnet werden. Internationale
349 Zusammenarbeit basiert vielmehr auf rechtebasierter Kooperation, dem Partnerschaftsprinzip,
350 auf Selbstbestimmung und hat globale Gerechtigkeit und die Sicherung globaler öffentlicher
351 Güter zum Ziel.
352 (403) Aus den Verbrechen des Kolonialismus erwächst für Deutschland und Europa eine besondere
353 Verantwortung, nach innen und außen. Es besteht die gesamtgesellschaftliche Pflicht, die verheerenden
354 Auswirkungen des
355 Kolonialismus anzuerkennen, aufzuarbeiten und sie zu beheben. Die Menschen und Staaten im
356 globalen Süden verfügen über ein enormes Innovationspotential, von dem auch Deutschland und
357 Europa lernen können. Die internationale Zusammenarbeit ist postkolonial und antirassistisch
358 auszurichten.
359 (404) Die Fehler der Ausbeutung von Mensch und Natur müssen überwunden werden durch ein
360 faires und nachhaltiges Wohlstandsmodell. Wertegeleitete
361 Politik hat ihr Handeln konsequent auf friedens-, menschenrechts- und klimapolitisch
362 kontraproduktive Wirkungen zu prüfen und Schädliches zu unterlassen.
363 (405) Es braucht eine starke öffentliche Säule der Entwicklungs- und Klimafinanzierung. Sie
364 muss eng verzahnt, wirksam ausgeweitet und an den nachhaltigen Entwicklungszielen
365 ausgerichtet werden. Dabei sind evidenzbasierte Ansätze und der ständige Austausch mit der
366 Wissenschaft unerlässlich.
367 (406) Die globale Transformation bedeutet vor allem in ärmeren Ländern massive Investitionen.
79
368 Diese nachhaltig, sozial-ökologisch und auf lokale Bedürfnisse ausgerichtet bereitzustellen,
369 muss ein zentrales Ziel der globalen Finanzierungsarchitektur sein. Internationale Zusagen
370 müssen verbindlich eingehalten und die Förderung der Geschlechtergerechtigkeit muss
371 berücksichtigt werden. Auch neue Wege wie Direkthilfen an Menschen über Social-Cash-Transfer
372 sollten strukturell verankert werden. In der internationalen Klimafinanzierung stehen die
373 Industriestaaten - auch aufgrund ihrer historischen Emissionen - gegenüber den ärmeren
374 Ländern in der Verantwortung. Sie unterstützen bei Investitionen in Klimaschutz, bei der
375 Anpassung an die Folgen der Klimakrise und bei der Bewältigung von Schäden und Verlusten.
376 Denn angesichts der Klimakrise ist globale Kooperation und Unterstützung unabdingbar.
377 (407) Als weltweit größte Geberin hat die EU ein großes Potential für mehr Kohärenz und
378 Effizienz in der globalen Strukturpolitik. Ziel ist mittelfristig die Vergemeinschaftung der
379 nationalen Entwicklungspolitiken der Mitgliedstaaten. Eine gemeinsame europäische
380 Entwicklungspolitik soll zu einem Kern des gemeinsamen europäischen Handelns werden.
381 (408) Nachhaltiger Frieden und Demokratie sind auf eine aktive Zivilgesellschaft und
382 Transparenz angewiesen. Eine lebendige Zivilgesellschaft trägt dazu bei, Korruption und
383 soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Daher gilt es, die Handlungsspielräume und
384 Gestaltungsprozesse einer kritischen Zivilgesellschaft global zu verteidigen und die
385 Selbstorganisationskräfte der Zivilgesellschaft, insbesondere von Frauen, Indigenen und
386 marginalisierten Gruppen, zu stärken und zu erweitern. Hierfür braucht es sichere und offene
387 digitale Werkzeuge und Räume.
388 Handel
389 (409) Internationaler Handel verbindet Menschen und Staaten, ermöglicht Teilhabe an Gütern
390 und Dienstleistungen und die Verbreitung von Innovationen, schlechte Handelsregeln tragen
391 jedoch zu Umweltverschmutzung und Ausbeutung bei. Handel ist kein Selbstzweck, sondern dient
392 einem weltweit gerechten Wohlstand und damit der menschlichen Entfaltung. Er soll fair
393 gestaltet und demokratisch kontrolliert werden. Er muss zur Umsetzung der VN394 Nachhaltigkeitsziele und des Pariser Klimaabkommens beitragen, anstatt diese zu
395 konterkarieren.
396 (410) Eine demokratische Welthandelsordnung unter dem Dach einer reformierten WTO soll für
397 den regelgebundenen Ausgleich von Interessen stehen. Dazu gehört ein globales Kartellrecht,
398 ein transparentes Überwachungssystem des Vernetzungsgrads eines Wirtschaftsakteurs sowie
399 gesetzlich verankerte menschenrechtliche Sorgfaltspflichten für Unternehmen und deren
400 Einklagbarkeit. Auch fortschrittliche bilaterale Abkommen können wichtige Schritte auf
401 diesem Weg sein, wenn sie transparent und demokratisch zustande kommen und sich an globalen
402 Gemeinwohlinteressen ausrichten. Einer Untergrabung des Multilateralismus durch
403 Großmachtpolitik treten wir entgegen.
404 (411) Handelspolitik der EU ist ein starkes Instrument, um Umwelt-, Tier- und Klimaschutz,
405 die Einhaltung der Menschenrechte und soziale Standards wie den Schutz von
406 Arbeitnehmer*innen-Rechten mit Wirtschaftsinteressen in Einklang zu bringen und weltweit
407 durchzusetzen. Bereiche der Daseinsvorsorge, also öffentliche Güter wie beispielsweise
408 Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit oder Wasser, sind staatliche Aufgaben und
409 unterliegen einem öffentlichen Interesse. Sonderrechte und Sonderjustiz für Konzerne sind
80
410 auszuschließen. Handelsabkommen dürfen es Staaten und der EU nicht erschweren, eigene höhere
411 Standards in Bezug auf Klima-, Umwelt-, und Verbraucher*innenschutz festzulegen. Das
412 europäische Vorsorgeprinzip ist stets zu wahren.
413 (412) Es braucht weltweit eine regionale Versorgungssicherheit mit überlebensnotwendigen
414 Lebens- und Arzneimitteln. Daher dürfen diese nicht allein krisenanfälligen globalen
415 Lieferketten überlassen werden, sondern müssen auch im europäischen Binnenmarkt produziert
416 werden können.
417 (413) Handelsabkommen sind stark, wenn sie regionale Wirtschaftskreisläufe, regionale
418 Wertschöpfung und regionalen Handel fördern und die Erfüllung der Nachhaltigkeitsziele
419 sichern, indem sie Umwelt- und Sozialstandards sowie die Einhaltung der Menschenrechte
420 verbindlich vorschreiben. Hierfür sind Prüf- und Beschwerdeinstrumente sowie
421 Sanktionsmöglichkeiten wie Handelsbeschränkungen vorzusehen.
422 (414) Fairer Handel braucht einen Abbau der Ungleichgewichte im Welthandel und in der
423 Eurozone. Deutschland hat dabei eine besondere Verantwortung und sollte mit öffentlichen
424 Investitionen, guten Löhnen oder einer Stärkung der Binnennachfrage seinen
425 Handelsbilanzüberschuss schrittweise reduzieren.
426
427 (415) Eine faire Handelspolitik beruht auf Gegenseitigkeit und hilft der europäischen
428 Wirtschaft gegen unfaire Praktiken wie Dumping oder Welthandelsrecht verletzende
429 Subventionen. Sie achtet auf den Schutz sensibler Infrastruktur gegenüber Investitionen aus
430 Drittstaaten.
431 (416) Ärmere Länder sind im Welthandel mit einer asymmetrischen Zollpolitik zu stärken. Sie
432 sollen souverän entscheiden, welche Bereiche ihrer Wirtschaft sie öffnen und welche sie
433 schützen wollen. Industriestaaten müssen unter Berücksichtigung hoher ökologischer und
434 sozialer Standards ihre Märkte hingegen für diese Länder öffnen und hoch subventionierte
435 Agrarprodukte nicht exportieren, die lokale Märkte zerstören. Denn formal gleiche Rechte bei
436 ungleich verteilter ökonomischer Macht führen zu ungerechten Ergebnissen und benötigen
437 deshalb gemeinsame Steuerungsmechanismen und die Orientierung an globalen
438 Gemeinwohlinteressen.
439 (417) Herstellung, Produktion und Transport der Waren für den europäischen Markt müssen frei
440 sein von ausbeuterischer Arbeit, Menschenrechtsverletzungen, Kinderarbeit und
441 Umweltzerstörung, auch auf See. Fairer Handel soll Standard werden. Sorgfaltspflichten
442 sollen auf nationaler wie internationaler Ebene gesetzlich verankert werden. Auch der
443 Tierschutz ist zu beachten. Das gilt für den gesamten Weg der Lieferketten und ist über
444 vollständige Transparenz, etwa durch digitale Verfahren und Sanktionsmöglichkeiten
445 herzustellen. Dabei kommt der öffentlichen Hand als weitaus größter Beschafferin eine
446 besondere Verantwortung zu. Gleichzeitig tritt die EU dafür ein, dass diese Ziele auch
447 global gelten.
448 Finanzmärkte und Währungsordnung
449 (418) Unregulierte globale Finanzmärkte haben zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine schwere
450 Wirtschaftskrise ausgelöst und weltweit für schwere Verwerfungen gesorgt. Kurzfristige,
81
451 spekulative Finanzströme sollen daher reguliert, verteuert und notfalls verboten werden.
452 Alle internationalen Kapitalströme sollten transparent sein. Auch mit Steuerumgehung und
453 nicht gesicherten Spekulationen soll künftig kein Geld mehr verdient werden. Steuersümpfe
454 müssen trockengelegt und internationale Steuerhinterziehung - auch mittels eines
455 international verbindlichen Regelwerks, das Mindeststandards für die Steuerpflichten von
456 Unternehmen und Staaten setzt - muss bekämpft werden. Wo und wie viel internationale Konzerne
457 an Steuern zahlen, muss öffentlich einsehbar sein.
458 (419) Nachhaltige internationale Direktinvestitionen fördern die weltweite Entwicklung und
459 gehören zu einer starken Außenwirtschaftspolitik der Europäischen Union. Eine gerechte
460 Weltwährungsordnung ermöglicht allen Ländern – nicht nur den wohlhabenden – eine
461 langfristige und damit verlässliche Finanzierung von Investitionen. Neben einer Regulierung
462 von kurzfristigem Kapitalverkehr braucht es dafür die Stabilisierung von Wechselkursen.
463 (420) Nur globale öffentliche Institutionen können gegen spekulative Attacken auf Staaten
464 und ihre Währungen absichern. Langfristiges Ziel ist daher eine weltweite Kooperation der
465 Zentralbanken sowie eine Stärkung und Demokratisierung des Internationalen
466 Währungsfonds (IWF). So soll Liquidität sichergestellt, dem globalen Finanzmarkt ein
467 stabiler Rahmen gesetzt und Krisen sollen so verhindert werden. Die Europäische Zentralbank
468 steht schon jetzt in der Verantwortung, die Auswirkungen ihrer Politik auf weniger und am
469 wenigsten entwickelte Länder zu berücksichtigen sowie Wechselkurse zu stabilisieren und
470 abzusichern. So hilft europäische Geldpolitik, spekulative Kapitalflucht aus diesen Ländern
471 zu vermeiden und deren Entwicklung zu fördern.
472 (421) Schulden können – wenn das Geld gut investiert wird – Entwicklung fördern und die
473 notwendige Finanzierung für die sozial-ökologische Transformation bereitstellen.
474 Überschuldung hingegen schadet insbesondere den Ärmsten der Armen. Insbesondere bremst sie
475 die Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele, gefährdet Gesundheitsversorgung, Bildung und
476 Infrastruktur in vielen Ländern. Die internationale Gemeinschaft muss regelbasierte
477 Verfahren schaffen, um bei Zahlungsunfähigkeit von Staaten durch Schuldenerlasse,
478 Zahlungsaufschübe oder einen Schuldenschnitt einen Ausgleich zu finden.
479 Staateninsolvenzverfahren können sämtliche Schulden für Länder umfassen, die nicht in ihrer
480 eigenen Währung verschuldet sind. Finanzhilfen wiederum dürfen nicht vom Abbau der
481 Daseinsvorsorge abhängig gemacht werden.
482 (422) Zu einer weltpolitikfähigen EU gehört eine sichere und starke Währung. Der Euro soll
483 zu einer globalen Leitwährung werden. Voraussetzung dafür sind eine gemeinsame Fiskalpolitik
484 der EU sowie die Herausgabe sicherer und liquider gemeinsamer Anleihen, abgesichert mit
485 eigenen Steuerquellen. Die strategische Handlungsfähigkeit der EU soll auch durch eigene
486 Zahlungssysteme und ein digitales Zentralbankgeld sichergestellt werden.
487 Migration und Flucht
488 (423) Migration hat es in der Menschheitsgeschichte immer gegeben. Sie ist und war stets
489 Triebfeder für Entwicklung und globale Zusammenarbeit, genauso Quelle von Austausch und
490 Innovation, aber auch von Leid und Verlust. Migration prägt und verändert seit Jahrhunderten
491 auch unsere Gesellschaft und unseren Alltag auf allen Ebenen. Die Möglichkeit zu migrieren
492 oder in der Heimat zu bleiben, darf nicht das Privileg weniger Menschen bleiben. Um globale
82
493 Abschottung zu beenden sind die Grundlagen zu schaffen. Unsere Demokratie ist keine, in der
494 Zugehörigkeit auf Herkunft basiert, sondern eine offene Gesellschaft, in der wir uns
495 gemeinsam darüber verständigen, wie wir zusammenleben wollen. Diskriminierungen und
496 Ausschlussmechanismen sind darin abzubauen und Rassismus wird aktiv und entschlossen
497 bekämpft. Jeder Mensch hat das Recht auf ein Leben in Würde und Freiheit.
498 (424) Migration ist globale Realität und braucht globale Regelungen. So stärken
499 internationale Vereinbarungen, wie der Globale Pakt für Migration die Rechte und die
500 Freiheit von Menschen, die nicht in ihrem Geburtsland leben, arbeiten oder zur Schule gehen.
501 Sie sind Grundlage für die internationale Verständigung zum rechtebasierten Umgang mit
502 Migration und soll in diesem Sinne weiterentwickelt werden. Der gleichberechtigte Anspruch
503 von Migrant*innen zur Durchsetzung ihrer Rechte muss national und europäisch verbindlich
504 umgesetzt werden.
505 (425) Deutschland ist ein Einwanderungsland, Europa ein Kontinent der Migration. Deshalb
506 braucht es sichere Zugangswege und ein Einwanderungsgesetz, das faire und
507 diskriminierungsfreie Kriterien für Einwanderung definiert. Das schließt ein Recht auf
508 Familienleben mit ein sowie dass Menschen ihren Status wechseln und zwischen ihrem
509 Herkunftsland und dem Wohnort hin- und herreisen können. Menschen, die hier leben, sollen
510 schnell den Zugang zu staatsbürgerlichen Rechten bekommen. Dafür braucht es ein modernes
511 Staatsbürgerschaftsrecht, das mehrere Staatsbürgerschaften ermöglicht.
512 (426) Menschen, die aufgrund von politischer Verfolgung, Folter, Bedrohung von Leib und
513 Leben, Menschenrechtsverletzungen oder Krieg gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen,
514 werden durch das Asylrecht geschützt. Das international verankerte Recht, in einem anderen
515 Land Schutz zu suchen, beruht auf den Lehren aus dem Menschheitsverbrechen der Shoah. Die
516 völkerrechtlich verbindlichen Regeln, insbesondere der Genfer Flüchtlingskonvention, gelten
517 universell und uneingeschränkt für alle Geflüchteten. Sie sind Verpflichtung und Fundament
518 einer Welt, in der die Würde des Menschen unantastbar ist. Das individuelle Grundrecht auf
519 Asyl ist Grundpfeiler einer menschenrechtsorientierten Politik und muss unangetastet
520 bleiben. Statt Länder politisch als sichere Dritt- oder Herkunftsstaaten einzustufen,
521 braucht es rechtssichere, schnelle und faire Verfahren, also unvoreingenommene Asylverfahren
522 und den Zugang zu einer unabhängigen Beratung während des gesamten Verfahrens. Der Globale
523 Pakt für Flüchtlinge steht für das Bestreben, Flucht international menschenwürdig zu
524 gestalten und die Rechte der Betroffenen zu schützen. Entsprechend muss der internationale
525 Umgang mit Geflüchteten rechtebasiert weiterentwickelt werden.
526 (427) Egal wo jemand herkommt, egal wo jemand hinwill oder aus welchem Grund ein Mensch in
527 Seenot ist: Menschen sind aus Lebensgefahr zu retten und an einen sicheren Ort zu bringen.
528 Dort, wo Menschen in Not sind, haben Staaten die Verantwortung, Rettungen zu koordinieren
529 und zu organisieren. Dafür braucht es ein gemeinsames EU-Seenotrettungssystem. Wer sich für
530 Menschenrechte einsetzt, ob an Land oder auf See, ist zu unterstützen und darf nicht
531 kriminalisiert werden.
532 (428) Die Klimakrise zwingt immer mehr Menschen zu Migration und Flucht, bereits bestehende
533 Konflikte werden weiter verschärft. Insbesondere der globale Süden ist davon betroffen. Ziel
534 muss sein, durch Klimaschutz, -finanzierung und -anpassung zu verhindern, dass Menschen
83
535 aufgrund der Klimafolgen ihre Heimat verlassen müssen. Wenn Menschen die Staatenlosigkeit
536 droht oder sie dauerhaft ihre Heimat verlieren, brauchen sie Möglichkeiten zur würdevollen,
537 frühzeitigen, selbstbestimmten und sicheren Migration. Sie dürfen nicht in eine Schutzlücke
538 geraten. Perspektivisch brauchen sie einen völkerrechtlichen Schutzstatus. Insbesondere
539 Staaten, die historisch wie aktuell den Großteil klimaschädlicher Gase emittieren, müssen
540 sich an einem globalen Ausgleich der Klimafolgen, Schäden und Verluste sowie der Schaffung
541 sicherer und würdevoller Migrationswege beteiligen.
542 (429) Menschen brauchen Perspektiven. Duldungen bedeuten einen Zustand in der Schwebe,
543 fortdauernde Unsicherheit und Perspektivlosigkeit. Ein solcher Ausnahmezustand muss Ausnahme
544 sein. Menschen, die dauerhaft hier leben, brauchen ein sicheres Bleiberecht. Kein Mensch ist
545 illegal, daher sollten Abschiebungen stets das letzte Mittel sein. Freiwillige Rückkehr hat
546 immer Vorrang. Haft ohne Verbrechen zur Durchsetzung der Ausreise ist ein massiver Eingriff
547 in das verfassungsrechtlich garantierte Freiheitsrecht. Abschiebungen in Kriegs- und
548 Krisengebiete verbieten sich.
549 (430) Rechtsstaatliche, zügige und geordnete Verfahren ermöglichen die Wahrnehmung der
550 menschenrechtlichen und humanitären Verantwortung der EU. Der Zugang zu individuellen
551 Asylrechtsverfahren muss in den Mitgliedsstaaten der EU gewährleistet sein. Abschottung ist
552 nicht nur inhuman, sondern führt zu Chaos. Rechtsstaatlich und europäisch kontrollierte EU553 Außengrenzen, eine zuverlässige Registrierung und erste Checks durch eine eigene EU554 Asylbehörde, humane Unterkünfte sowie ein einheitliches Asylsystem, das die Verantwortung
555 innerhalb der EU fair verteilt, sind die Grundlagen einer gemeinsamen EU-Asylpolitik.
556 Grenzen sind nur rechtsstaatlich kontrolliert, wenn Menschenrechte an diesen Grenzen
557 geschützt werden und eine Möglichkeit zur Einreise existiert.
558 (431) Nicht jede*r hat das Recht auf Asyl, aber jede*r hat das Recht auf ein
559 rechtsstaatliches Verfahren mit individueller Prüfung sowie auf eine würdige Unterbringung
560 und Behandlung. Zugang zu unabhängiger, rechtlicher Beratung und zu
561 Widerspruchsmöglichkeiten zeichnet den Rechtsstaat aus. Ärztliche Versorgung und Zugang zu
562 Bildung muss in dieser Zeit und auch unabhängig vom Status gewährleistet sein. Ziel ist ein
563 gemeinsames EU-Asylrecht mit hohen Standards.
564 (432) Um eine humanitäre Versorgung von geflüchteten Menschen auch außerhalb der
565 Europäischen Union zu unterstützen, sind Kooperationen und Solidarität mit Nachbarstaaten
566 und weiteren Aufnahmeländern notwendig. Die Möglichkeit zu fliehen sowie in Deutschland und
567 Europa Schutz zu suchen, darf jedoch nicht durch Kooperationen mit Drittstaaten erschwert
568 werden und Kooperationen dürfen nicht zu Menschenrechtsverletzungen führen. Besonderen
569 Schutz brauchen vulnerable Gruppen wie zum Beispiel Frauen, Kinder, LGBTIQ*, alte und kranke
570 Menschen.
571 (433) Das Bekämpfen von Fluchtursachen heißt, die Gründe für Flucht und nicht die Menschen
572 auf der Flucht zu bekämpfen. Europäische Politik muss sich danach ausrichten, die
573 politischen Herausforderungen global zu denken und auch lokal dafür Sorge zu tragen, globale
574 Gerechtigkeit zu stärken. Europäische Wirtschafts-, Finanz-, Handels-, Agrar- oder
575 Rüstungsexportpolitik muss konsequent auf ihre sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen
576 Wirkungen in Drittstaaten überprüft werden, Korruption und Patronage unterbinden und nach
84
577 dem Pariser Klimaabkommen, den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen sowie den
578 Menschenrechten gestaltet sein.
579 (434) Im Zentrum unserer Asyl- und Migrationspolitik steht der Mensch in seiner Würde und
580 Freiheit. Unser Ziel ist eine Welt, in der Menschen nicht zur Flucht gezwungen werden.